Teil A:

Der Ameisenstaat als Modell der Schwarmintelligenz

Der britische Insektenforscher C. B. Williams hat errechnet, dass die Zahl der zurzeit auf der Erde lebenden Insekten bei ca. einer Million Billionen (1018) liegt. Wenn nun, um vorsichtig zu rechnen, ein Prozent dieser unglaublichen Menge Ameisen sind, dürfte es ca. 10.000 Billionen von ihnen auf der Erde geben. Die durchschnittliche Ameisenarbeiterin wiegt zwischen einem und fünf Milligramm. Das hieße, dass die Biomasse aller lebenden Ameisen die Biomasse aller Menschen überwiegt.

Warum sind Ameisen und andere soziale Insekten so unglaublich erfolgreich? Ihre Stärke verdanken sie ihrer sozialen Organisation. Aber wie gelingt es ihnen, in ihren riesigen Ameisenstaaten eine Ordnung herzustellen und aufrecht zu erhalten. Wie verwalten sich die Ameisenstaaten? Wer wird Königin? Wie können sie Voraussagen über die Zukunft treffen? Wie lassen sich Tausende von Individuen unter einen Hut bringen, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen und kein Chaos anzurichten? Wie werden Entscheidungen getroffen, und woher weiß jede Ameise, was sie wann zu tun hat? Der Organisationsgrad der Ameisenstaaten verblüfft umso mehr, wenn man weiß, dass Ameisen eigentlich nur über recht dürftig Sinnesorgane verfügen, mit denen sie die Welt wahrnehmen können. Außerdem ist ihr Nervensystem nur recht schwach ausgebildet und kann nur eine begrenzte Zahl von Reizen verarbeiten; ihr Erinnerungsvermögen reicht nur wenige Stunden in die Vergangenheit zurück.

Intelligenz lässt sich ganz einfach definieren als die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Ein System ist intelligenter als ein anderes, wenn es in einem bestimmten Zeitraum mehr Probleme lösen kann oder bessere Lösungen für ein Problem findet. Von kollektiver Intelligenz einer Gruppe darf dann gesprochen werden, wenn sie mehr oder bessere Lösungen findet als ihre einzelnen Individuen fänden, wenn sie allein arbeiteten.

Alle Organisationen, egal ob es sich dabei um Firmen, Institutionen oder Sportvereine handelt, werden in der Annahme gegründet, dass ihre Mitglieder zusammen mehr erreichen können als allein. Die meisten Organisationen besitzen jedoch eine hierarchische Struktur mit einem Individuum an der Spitze, das die Aktivitäten der Individuen der unteren Ebenen steuert. Obwohl kein Präsident, kein Vorstandsvorsitzender und kein General alle Aufgaben, die von Individuen in komplexen Organisationen erfüllt werden, überblicken geschweige denn kontrollieren kann, darf man durchaus davon ausgehen, dass die Intelligenz einer von Menschen geführten Organisation in gewisser Weise nur eine Reflexion oder eine Verlängerung der Intelligenz ihres führenden hierarchischen Kopfes ist.

Ameisenstaaten sind ständig wechselnden Einflüssen unterworfen, auf die sie reagieren müssen. Wenn sich plötzlich zusätzliche Nahrungsquellen auftun, werden mehr Einsammler gebraucht, und wenn der Bau beschädigt wird, ist eine schnelle Ausbesserung vonnöten. Dafür werden bestimmten Arbeitern je nach Situation und sich plötzlich ergebenen Problemen bestimmte Aufgaben übertragen. Diese Zuweisung von Aufgaben ist ein Prozess ständiger Anpassung, der ohne jede zentrale oder hierarchische Kontrolle abläuft. Der Begriff Ameisenkönigin erinnert uns zwar automatisch sofort an menschliche Herrschaftssysteme. Eine Ameisenkönigin ist aber keine 'Autoritätsperson'. Sie legt Eier und wird von den Arbeiterinnen gehegt und gepflegt. Aber sie entscheidet nicht, was eine Arbeiterin tun oder lassen soll. In den Staaten der Ernteameisen wird die Königin durch Tunnel, Kammern und Tausende von patrouillierenden Ameisen von den übrigen Ameisen abgeschirmt. Diejenigen Ameisen, die außerhalb des Baus arbeiten, haben nur zu den Kammern an der Oberfläche des Baus Zutritt. Die Königin wäre rein physisch gar nicht in der Lage, auf sie einzuwirken. In den USA ist der Handel mit ganzen Ameisenstaaten legal. Verboten ist aber, Königinnen (die bis zu über 20 Jahre leben können) mit zu verkaufen. Trotzdem funktionieren diese Staaten auf harmonische Art und Weise. Sie errichten einen Bau, bauen Brücken, sammeln Nahrung und verteidigen ihren Staat gegen Eindringlinge. Dies alles tun sie ohne eine Königin. Das Fehlen einer zentralen Autorität mag uns merkwürdig vorkommen, da wir in vielen Bereichen der Gesellschaft an hierarchisch strukturierte soziale Gruppen gewöhnt sind: in Universitäten, Unternehmen, Regierungen, beim Militär usw. Die quasi wie von Geisterhand dirigierte Organisation der Ameisenstaaten fasziniert und inspiriert uns Menschen immer wieder.

Die einzelnen Individuen vollbringen in ihrer Gesamtheit kognitive Leistungen, die die Fähigkeiten jedes Einzeltiers weit übersteigen. Doch eine hierarchisch oberste Instanz, ein zentraler Organisator, ist nirgends erkennbar. Die 'Seele' des Ameisenstaats ist dezentralisiert als kollektive Intelligenz über die Gesamtheit der Gruppenmitglieder verteilt.

Permanent treffen Tausende von Gehirnen, jedes lediglich mit einem engen Erfahrungshorizont ausgestattet, Tausende weitgehend unabhängiger Entscheidungen. Dabei verfügen sie über eine Vielfalt von Lernmechanismen, mit denen sie ihre Verhaltensprogramme den Gegebenheiten anpassen. Die Flexibilität der Individuen macht den 'Superorganismus' zu einem riesigen Parallelprozessor, in dem unendlich viele Ereignisse gleichzeitig bearbeitet werden. Dieser Superorganismus gleicht einem virtuellen Großhirn, in dem unzählige Miniaturgehirne drahtlos zusammengeschlossen sind. Die Übertragung von Informationen erfolgt über Verhaltenssignale. Der Organismus kann nur im Ganzen überleben; die einzelnen Teile sind ohne das Ganze nicht überlebensfähig. In dieser Hinsicht ähneln sie dem Menschen, der ebenfalls aus unzähligen Organismen besteht, die ebenfalls alle selbstständig handeln, aber auch ohne das Ganze nicht überlebensfähig sind. Zwar verfügen wir über eine zentrale Verwaltung durch unser Gehirn, aber die einzelnen Zellen erledigen ihre Aufgaben selbstständig, ohne auf Befehle des Gehirns zu warten. Selbst wenn eine gewisse Koordination da ist, findet sie meistens unbewusst statt.

Die Schlichtheit der Ameisensprache und die relative Schlichtheit dieser Tiere selbst ist für den Ameisenstaat nicht von Nachteil. Computerprogrammierer wissen: Beim Aufbau eines Systems dürfen die einzelnen Teile nicht zu kompliziert sein. Ein dicht geknüpftes Netz bestehend aus einfachen Einzelteilen ist in dieser Hinsicht sehr vorteilhaft. Komplexität und Differenzierung ergeben sich dann nach und nach ganz von selbst. Aus diesem Grunde reagiert eine Ameise auch nicht auf alle Reize, denen sie ausgesetzt ist. Sie ignoriert sie so lange, bis sie entscheidet, dass der Reiz so stark ist, dass er wirklich beantwortet werden muss.

Ameisen verfügen über ein unglaublich aufwändiges und kompliziertes chemisches Kommunikationssystem. Ihre wichtigsten Sinnesorgane sind die Fühler, über die sie unzählige Informationen in Form von Duftstoffen, den Pheromonen, aufnehmen. Diese Pheromone sind Hormone, die nicht nur im Körper der einzelnen Ameise produziert werden und bestimmte Verhaltensweisen auslösen. Sie werden über die Drüsen abgesondert und bewirken, dass sich andere Ameisen, die sie aufnehmen, genauso verhalten wie die absondernde Ameise. Das heißt: Wird eine einzelne Ameise gereizt und dadurch aggressiv, werden auch die Tiere in ihrer unmittelbaren Umgebung unweigerlich aggressiv. Außerdem dienen diese Pheromone als Markierungsflüssigkeit - für Nahrungsquellen und gefährliche Orte oder als Hinweisschilder auf den berühmten Ameisenstraßen.

[Links nur für registrierte Nutzer]
Teil B:

Unterschiede der Ansätze von Schwarmintelligenz im tierischen und humanen Organisationsspektrum

Zum einen liegt der wesentliche Unterschied zwischen Tierkolonien und Unternehmen in der Struktur. Tierische Ansammlungen profitieren in der Regel von den Effekten der Schwarmintelligenz, Menschen profitieren im besten Falle von Effekten kollektiver Intelligenz. Im Falle von Ameisenkolonien und Bienenpopulationen existiert keine hierarchische Unternehmenskultur, in der Art wie wir sie kennen. Hier gibt es keinen Befehlshaber, keine Gewerkschaft und auch keine Verwaltung. Statt dessen gibt es hoch effiziente Abstimmungsprozesse zur Koordination und Entscheidungsfindung. Am Beispiel der Ameisen zeigt sich das in der unfassbar schnellen Neustrukturierung eines gescheiterten Plans, wie der Zerstörung einer Straße. Gleich eines Computers, der zum Neustart ansetzt, gerät der Ameisenhaufen für einen Bruchteil einer Sekunde ins Wanken. Das dann einsetzende vermeintliche Chaos dient in Wirklichkeit zur blitzschnellen Problemlösung. In Windeseile markieren Duftstraßen auf viel begangenen Straßen erneut den schnellsten Weg. Gesammelte Informationen aus unterschiedlichen Quellen dienen dabei der Entscheidungsfindung. Die am häufigsten genannte Information setzt sich durch. Ähnlich funktioniert die Kommunikation auch bei Honigbienen. Die bis zu 50.000 zusammen lebenden Bienen nehmen sich Zeit alle Einfälle und Möglichkeiten zu diskutieren. Jede Idee wird angehört und am Ende setzte sich das Beste für die Allgemeinheit durch.

Den Kritikern solcher organisieren Unternehmensschwärme muss deutlich werden, dass auch wir keine Veranlassung sehen unser Heil in einem Menschenhaufen zu suchen, in dem uns pheromonlastige Autobahnen zur nächsten Kneipe führen, in dem zu Gebährmaschinen reduzierte Frauen massenhaft Einheitsnachwuchs produzieren und dieser halbwüchsig geworden, ab und an unterlegene Nachbarhaufen überfällt, um deren Wickelkinder als willige Arbeitssklaven für künftige Aufgaben wegzuschleppen.

Die meisten unternehmerischen Führungskräfte geben das Ruder nur ungern aus der Hand und treffen Entscheidungen doch lieber selbst. Auch wird dem Team nicht viel zugetraut, obwohl in Fehlern bekanntlich die besten Chancen stecken.

Noch dazu lässt sich das eigentliche Potenzial der Schwarmintelligenz nur dann ausschöpfen wenn die einzelnen Mitglieder eigenständig handeln und entscheiden. können Selbst die größte Gruppe ist nicht klug, wenn die einzelnen Mitglieder warten, bis jemand sagt, was zu tun ist. Weiterhin gilt: Umso verschiedener die Charaktere, desto universeller die Antworten. Homogene Gruppen haben oftmals Probleme über den Tellerrand zu schauen. Kollektive Intelligenz ist also dann besonders attraktiv, wenn eine möglichst breite Disziplinarität vertreten ist.

[Links nur für registrierte Nutzer]
Teil C:

Trends, Bildung, Schwärme - Zusammenhänge und ein Blick ins Jahr 2020

Im Jahr 2020 hat sich der Trend zur Ein- oder Kein-Kind-Familie fortgesetzt, mit Ausnahme vieler Familien nichtdeutscher Herkunft, die allerdings ebenfalls immer weniger Kinder bekommen, aber vielfach noch vom Ideal der Großfamilie geprägt sind. Zuwanderer und ihre Nachkommen stellen inzwischen mehr als die Hälfte der Großstadteinwohner unter 40 Jahren. Immer mehr Kinder werden mittlerweile ohne Geschwister groß.

Außerdem haben sie gleich mehrere leibliche und nichtleibliche Eltern – soziale Eltern –, die sie großziehen (Patchwork-Familie). Es sind in der Regel Wunschkinder, wobei ihre Eltern sie in immer höherem Alter bekommen, sich dann aber umso intensiver um sie kümmern.

Die „Erziehungsschere“ geht indes immer weiter auf: auf der einen Seite die kleinen Mittelschichts-Prinzen und -Prinzessinnen, deren Eltern nichts unversucht lassen, die Talente ihrer Lieblinge zu entfalten. Auf der anderen Seite stehen die Kinder bildungsferner Schichten, die entweder völlig unpädagogisch verwöhnt oder vernachlässigt groß werden. Doch schon vor 15 Jahren wurde damit begonnen, das Schulsystem grundlegend zu reformieren.

Oberste Maxime: Der Nachwuchs wird als wertvolle Ressource wahrgenommen und gut ausgebildet. Neue Schulfächer wie Gesundheit und Ernährung, aber auch Selbstmanagement stehen auf dem Lehrplan. Mehrsprachigkeit von der ersten Klasse an ist eine Selbstverständlichkeit. Als fächerübergreifende Bildungsideale werden aber auch Herzensbildung und Originalität gefördert.

Unvorstellbar, dass vor 20 Jahren Ganztagsschulen noch die Ausnahme waren. Die ehemaligen Netzwerkkinder, die heutigen Eltern, haben endlich die Notbremse gezogen und ihre Interessen konsequent durch- und umgesetzt.

Unsere Leitbilder haben sich radikal gewandelt. Früher dachte man mechanistisch und wollte Organisationen wie Uhrwerke managen. Exakt und im Takt. Die Netzwerkkinder dachten dagegen eher soziotechnisch. Unter ihrer Führung flachten Hierarchien ab, es wurden ganze Managementebenen eingedampft und es wurde auf technisch hoch gerüstete Teams gesetzt. Die Idee der Vernetzung hatte eine ganze Generation verzaubert. Alles wurde mit allem vernetzt. Damit nahmen aber auch die Abhängigkeiten zu – interne wie externe. Und die mit der Vernetzung verbundene Zunahme an Komplexität hat im Rückblick nur selten zu mehr Effizienz geführt: Netzwerk-Organisationen steigerten den Abstimmungsbedarf und waren damit extreme Zeitfresser (Wozu muss ein Mensch 600 E-Mails am Tag bekommen?). Außerdem neigten sie zu diffusen Verantwortlichkeitsverhältnissen, was ihre Handlungsfähigkeit deutlich einschränkte. Letztendlich nahmen die Schnittstellen-Probleme in der Netzwerk-Wirtschaft überhand und waren auch mit künstlicher Intelligenz nicht in den Griff zu bekommen.

Seit einiger Zeit denken wir nun soziobiologisch und managen nach Schwarm-Logik. Führung ist Strategiearbeit. Die operativen Handlungskompetenzen der einzelnen Mitarbeiter haben massiv zugenommen. Im Grunde sind wir kein Unternehmen im klassischen Sinn mehr, wir sind ein Schwarm von unternehmerisch handelnden Individuen, die sich über strategische Ziele koordinieren. Wir denken extrem kleinteilig und situativ. Kooperationen werden nicht mehr unternehmensweit gesteuert, sondern finden ständig auf der Mikro-Ebene statt – die Mitarbeiter entscheiden selbst darüber.

Die Grenzen zwischen den Unternehmen, den Kunden und den Kooperationspartnern sind unübersichtlich geworden. Damit umzugehen verlangt ein extrem hohes Maß an Selbstverantwortung und Selbstorganisation.

Obwohl wir heute wieder sehr stark auf die entwickelten Fähigkeiten der Einzelnen setzen, statt uns in Teams zu behindern, lebt im Unternehmen tatsächlich so etwas wie ein kollektives Bewusstsein. Die Bereitschaft, im Sinne des Unternehmens als Kollektiv zu handeln, ist trotz erheblichem Leistungsdruck erstaunlich entwickelt. Die Mitarbeiter sind sehr professionell geworden, sie erwarten im Job keine soziale Wärmflasche, sondern wollen Effektivität. Denn nur die schafft ihnen die Freiräume, die sie in ihrem Leben brauchen.

Ganz im Sinne des Schwarm-Paradigmas finden Abstimmungen nur noch zwischen den Leuten statt, die es tatsächlich betrifft und die konkret etwas zur Aufgabenstellung beizutragen haben. Für die großen Runden von früher ist wenig Bedarf – und man sieht auch keinen echten Nutzen darin.

[Links nur für registrierte Nutzer]

Daemmert es jetzt weshalb 1.5 Milliarden Chinesen in einem Nationalstaat
mit Zentralregierung und foederativen Aufbau ueber die teilautonomen
Provinzebenen erfolgreich einen Nationalsozialismus praktizieren der
anderen Systemen auf der Welt weit ueberlegen und der Zeit weit voraus ist?