Das Jahrhundert der Sklaverei
von Moises Naim
Knapp 200 Jahre nach Ende des Sklavenhandels zwischen Afrika und Nordamerika erlebt der Menschenhandel eine Renaissance. Skrupellose Geschäftemacher verdienen Milliarden mit Schmuggel, Verkauf und Ausbeutung von Sexsklavinnen und Zwangsarbeitern.
Es dauerte 400 Jahre, zwölf Millionen afrikanische Sklaven über den Atlantik in die neue Welt zu importieren, und es waren zwölf Millionen zu viel. In unserer Zeit jedoch wurden allein in Südostasien 30 Millionen Frauen und Kinder verkauft, und zwar in den vergangenen zehn Jahren! Noch ist der Menschenhandel nicht das profitabelste illegale Geschäft, diese Ehre gebührt dem Drogenhandel, aber er ist vermutlich das am schnellsten wachsende. Im grenzüberschreitenden Menschenhandel werden Schätzungen zufolge jährlich 700000 bis zwei Millionen Menschen bewegt. Wenn man den Kauf und Verkauf von Menschen innerhalb von Staaten mitrechnet, ist diese Zahl noch viel höher. Die Zahl der Menschen, die heute, oft gegen ihren Willen, illegal Staatsgrenzen überschreiten, ist in der Geschichte der Menschheit noch nie so hoch gewesen.
Laut den Vereinten Nationen entsteht, wenn man neben dem Verkauf von Menschen auch den bloßen Schmuggel von Menschen miteinbezieht, das Gesamtbild eines „Handels mit Menschen“, der einen Jahresumsatz von sieben bis zehn Milliarden Dollar hat und von dem jährlich mindestens vier Millionen Menschen betroffen sind. Möglicherweise sind diese Zahlen noch höher, da allein beim Menschenschmuggel aus China wahrscheinlich ein bis drei Milliarden Dollar pro Jahr umgesetzt werden und der mexikanische Menschenhandel den Schleusernetzen nach einer Schätzung des FBI jährlich sechs bis neun Milliarden Dollar einbringt.
Mit den Begriffen Menschenschmuggel und Menschenhandel werden eigentlich zwei verschiedene Dinge bezeichnet. Beim Menschenschmuggel bezahlen die Migranten die Schmuggler für die illegale Einreise in das Wunschland. Beim Menschenhandel werden die männlichen oder weiblichen Opfer betrogen oder irgendeiner Form von Zwang unterworfen, und ihre Arbeitskraft wird verkauft. In der Praxis ist diese Unterscheidung jedoch keineswegs klar. Die Varianten des Menschenschmuggels gehen fließend ineinander über. Sie sind verschiedene Aspekte einer riesigen neuen Branche, die die Sehnsüchte von Menschen ausnutzt, die sich benachteiligt fühlen und nach einem besseren Leben streben. Menschenhändler beuten diese Antriebe für ihre Zwecke aus und machen Profit, weil sie die Fähigkeit besitzen, die staatlich errichteten Hindernisse zu überwinden.
Ihre Geschäftschancen sind gewaltig, wie das Beispiel von Tourab Ahmed Sheik belegt: Zwischen 1988 und 1996 verdiente der in Pakistan geborene Malteser 15 Millionen Dollar in seinem schnell wachsenden Geschäft. Sheik begann damit, dass er Inder auf dem Luftweg über Malta nach Deutschland brachte....
Osteuropäische Zwangsprostituierte werden in ihrer Heimat von Männern rekrutiert, die für ein Kopfgeld von 500 Dollar arbeiten.
Heute gibt es zahlreiche Routen für Sexsklavinnen auf der Welt. Sie führen von Myanmar, China und Kambodscha nach Thailand, von Russland in die Emirate am Persischen Golf, von den Philippinen und Kolumbien nach Japan und so weiter. Seit dem Fall des eisernen Vorhangs wurden Städte in ganz Westeuropa und Japan mit Tausenden von jungen Frauen aus Russland, der Ukraine, Moldawien und Rumänien beliefert, wo sie in der Sexindustrie ausgebeutet werden. Menschenhändler waren in London Mitte der neunziger Jahre noch fast gänzlich unbekannt; ein halbes Jahrzehnt später kontrollierten sie 80% der Postituierten auf dem Straßenstrich in den Londoner Rotlichtvierteln. In Städten wie dem französischen Lyon veränderte sich die Sexindustrie so stark, dass die alteingesessenen Huren sich organisierten und gegen die Übernahme ihrer Arbeit durch osteuropäische Zwangsprostitierte und die negativen Folgen für ihren Lebensunterhalt, ihre Gesundheit und ihre Sicherheit protestierten...
Dann werden die Frauen zunächst in so genannten "sicheren Häusern" in Budapest oder Sarajevo untergebracht, wo man sie mit Drogen, Schlägen und wiederholten Vergewaltigungen für die sexuelle Ausbeutung gefügig macht. Wenn die Frauen schließlich mit einem gefälschten oder gestohlenen Pass oder auf andere Weise illegal in den Westen gelangt sind, werden sie ein oder mehrere Jahre als Sexsklavinnen ausgebeutet und permanent gedemütigt, bis ihr Körper ruiniert oder die Menschenhändler aus irgendeinem Grund beschließen, dass sie ihre völlig willkürlich festgesetzten "Schulden" abgearbeitet haben...
Die reichen Länder üben eine magische Anziehungskraft auf Migranten aus, und die Flut illegaler Einwanderer richtet auf den Arbeitsmärkten dieser Länder, die ohnehin schon unter Rezession und Strukturveränderungen wie Outsourcing leiden, großes Unheil an. Wenn der Arbeitsschutz geschwächt wird und die Gewerkschaften Mitglieder verlieren, werden die Einwanderer tatsächlich zu einer "Reserverarmee" im Marxschen Sinne - einem Reservoir an billigen, unterwürfigen Arbeitskräften, dank deren Verfügbarkeit Löhne gedrückt und Arbeitsbedingungen verschlechtert werden können...
In Moskau halten sich stets bis zu 300 000 Illegale aus Asien, Afrika und dem Nahen Osten auf und warten auf den Weitertransport. Ein Anfang 1998 zerschlagenes Netz, das Iraker und Palistinenser nach El Paso in Texas brachte, unterhielt "Schmuggelstationen" in Jordanien und Syrien, im Westjordanland und in Griechenland sowie "Zwischenstationen" in Griechenland, Thailand, Kuba, Ecuador und Mexiko. Solche Systeme sind inzwischen weltweit verbreitet...
Zwischen dem Menschenschmuggel und anderen Spielarten der illegalen Wirtschaft und des organisierten Verbrechens bestehen offensichtlich Zusammenhänge... , war es nur natürlich, das die mexikanischen Gruppen, die schon lange illegale Migranten in die USA schmuggelten, irgendwann, ihre Einnahmen verdoppelten, indem sie ihre Kunden hin und wieder zwangen, "kleine Päckchen" mit über die Grenze zu nehmen. Mehrere kleine Päckchen pro Tag werden schnell zu einem großen Paket. Und wenn in diesem großem Paket Kokain ist, dann bringt es im Straßenverkauf sehr viel mehr Geld als die Beträge, die die armen Hilfsarbeit zahlen können, die - oft mit dem Tode bedroht - die kleinen Päckchen bei sich tragen". ..
Wie schafften es zum Beispiel die chinesischen Hersteller imitierter Markenuhren, für ihre Ware ein so hervorragendes und weltumspannendes Vertriebsnetz zu organisieren? An den Straßenecken von Paris und gegenüber der Central Station in New York werden dieselben Kopien hochwertiger Markenuhren verkauft. Wer sind die Verkäufer? In der Regel sind es Straßenhändler aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara. Sie werden von einem globalen Netzwerk nach Paris und New York geschmuggelt, das Abmachungen mit den Netzen der chinesischen Raubkopierer getroffen hat...
Die komplexen Operationen der Schleichhändler wären nicht so erfolgreich und über so lange Zeiträume aufrecht zu erhalten, wenn die illegalen Händler nicht Komplizen in den Staatsapparaten hätten. Ihre Hilfe ist für Menschenschmuggler und Menschenhändler sehr wichtig, um an echt wirkende Papiere zu gelangen.
Wie der Generalsekretär der Interpol Ronald Noble 2005 einräumte, war eines seiner schlimmsten Probleme ein Bestand von über 20 Millionen verlorenen oder gestohlenen Pässen, von denen nur 5,8 Millionen in einer Datenbank registriert worden waren.
Die neue Verfügbarkeit von Hig-Tech-Geräten für den Normalverbraucher kommt den Menschenhändlern sehr zustatten und hat ihnen einen Vorsprung gegenüber den Strafverfolgern verschafft. ... Am stärksten jedoch kommen die neuen Technologien in der Sexindustrie zum Einsatz. Im boomenden Handel mit Frauen und Kindern wird das Internet genutzt, um die Opfer wie auf einem Sklavenmarkt im Cyberspace anzubieten...
(Teil eines Auszugs aus dem Buch "Das Schwarzbuch des globalisierten Verbrechens. Drogen, Waffen, Menschenhandel, Geldwäsche, Markenpiraterie" von Moises Naim Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy ehemals Handels- und Industrieminister von Venezuela und Direktor der Weltbank)
Quelle:
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