Was Hirntod eigentlich bedeutet
Der Hirntod ist eine Frage von Definition und Diagnose. Bei der Debatte über das umstrittene Konzept geht es auch um die Würde des Sterbenden.
Von Birgitta vom Lehn
Ich besitze einen Organspendeausweis, weil ich finde, dass ich meine Organe nach dem Tod nicht mehr benötige, aber andere dagegen schon“, verkündet Alena. Auf der Website der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung können „Organpaten“ ein Statement abgeben. Über 1.700 meist junge Leute haben dort gepostet. Ob sie bereits einen Organspendeausweis bei sich führen und ihr Kreuzchen bei „Ja“ gesetzt haben, weiß man deshalb freilich noch nicht.
Wer sich mit dem Thema Organspende befasst, muss sich mit dem Begriff „Tod“ auseinandersetzen. Den Tod, so klar und simpel, wie er in dem oben zitierten Statement und auch im Wortlaut des Organspendeausweises benannt wird, gibt es im Hinblick auf Organspende gar nicht. Im Ausweis heißt es: „Für den Fall, dass nach meinem Tod eine Spende von Organen/Geweben zur Transplantation in Frage kommt...“ Präzise müsste hierzulande vom „Hirntod“ die Rede sein, der in Deutschland und den meisten anderen Ländern die Bedingung für eine Organentnahme darstellt. Der Hirntod wiederum ist lediglich eine Definition, die 1968 an der Harvard Medical School festgelegt wurde – ein Jahr nach der weltweit ersten Herztransplantation.
Zahlreiche Länder – auch Deutschland – haben das Hirntodkonzept übernommen. Der Erlanger Neurobiologe Ralph Dawirs spricht von einem „Bedarfs-Konzept“. Kritik daran gab es von Anfang an – und sie wurde lauter. Wann ist ein Mensch wirklich tot, und wie kann man den Tod einwandfrei feststellen? Kann es sein, dass ein Mensch für tot erklärt wird, obwohl sein Körper sich noch warm anfühlt, schwitzt, Exkremente ausscheidet und sogar ein Kind gebären kann?
Interesse am Organ
2009 hat der US-Bioethikrat ein Papier zur Problematik des Hirntods veröffentlicht. Darin wird der Würde des Sterbenden Vorrang eingeräumt gegenüber dem Interesse eines Kranken an einem neuen Organ. Denn der erste Knackpunkt ist: Nicht dem Toten, sondern dem Sterbenden werden die Organe entnommen. Dawirs bewertet die Bezeichnung Hirntod deshalb auch als „irreführend“. Tatsächlich würden die Organe nicht nach dem Tod entnommen, denn „das wäre zu spät“. Bei Transplantaten handle es sich vielmehr immer um Lebendspenden, betont der Biologe. „Wer sich dazu freiwillig bereiterklärt, sollte dies tun dürfen. Nur sollte sich jeder wirklich bewusst sein, dass er seine Organe in einem solchen Fall nicht vor seinem Tod entnehmen lässt, sondern dass diese Entnahme seinen Tod letztlich herbeiführt.“
Weiterer Knackpunkt: die Diagnose. 2010 hat die American Academy of Neurology der von ihr selbst 1995 vorgeschriebenen Hirntoddiagnostik eine mangelnde wissenschaftliche Fundierung bescheinigt: Es gebe weder ausreichende Nachweise für die richtige Beobachtungszeit, um die Unumkehrbarkeit des Hirntodes festzustellen, noch für die Zuverlässigkeit der verschiedenen Atemstillstandstests und der diversen apparativen Verfahren.
Andere Länder, andere Hirntod-Definitionen
Auch gibt es je nach Land unterschiedliche Hirntod-Definitionen und – zum Teil von Klinik zu Klinik – variierende diagnostische Verfahren. Dass in vielen anderen Ländern seit Jahren auch Organspenden von Herztoten praktiziert werden, macht die Entscheidung pro oder contra Organspende für Bundesbürger nicht leichter. Stimmt man nämlich im Spenderausweis mit „Ja“, gilt dies – sofern man keinen handschriftlichen Zusatz vornimmt – auch im Ausland, allerdings zu den dortigen Konditionen.
„Nach einem Stammhirninfarkt war ich nach britischer Definition tot, nach deutscher nicht“, sagt Karl-Heinz Pantke, der selbst ein sogenanntes Locked-in-Syndrom durchlitten hat. Sein für körperliche Bewegung verantwortliches Stamm- und Kleinhirn waren gelähmt, das für Verstand und Wahrnehmung zuständige Großhirn aber intakt. In Großbritannien reicht der Ausfall des Stammhirns, um für hirntot erklärt zu werden. Hierzulande müssen auch Groß- und Kleinhirn ausfallen. Der ehemalige Physikprofessor Pantke engagiert sich heute für Locked-in-Opfer und hat eine Selbsthilfegruppe in Berlin gegründet. „Sie könnten jetzt schreiben: Toter schreibt E-Mail“, scherzt Pantke.
Für einen Juristen sei es „nichts Ungewöhnliches“, dass es unterschiedliche Definitionen von Hirntod wie vom Tod überhaupt in den verschiedenen Ländern gebe, sagt Jochen Taupitz, Juraprofessor an der Universität Mannheim und Mitglied des Deutschen Ethikrates. Da aber „in keinem zivilisierten Land“ Organentnahmen ohne Einschaltung der Angehörigen durchgeführt würden, sollte der medizinische Zustand des potenziellen Organspenders denselben auch „wahrheitsgemäß kommuniziert“ werden. Falls aus den Informationen hervorgehe, dass der Hirntod anders als in Deutschland definiert sei, sollten die Angehörigen die Ärzte darauf hinweisen, dass der potenzielle Spender von dieser Möglichkeit offenbar nicht ausgegangen sei – und seine Zustimmung deshalb „für diesen Fall nicht gilt“.