Die wahren Gründe für die Sparpolitik

In den Krisenstaaten sollen die Einkommen sinken und das Arbeitsrecht gelockert werden.
Ganz ähnlich ging auch der IWF vor 30 Jahren vor. von Herbert Schui


Die Auflagen für Griechenland und die anderen Krisenländer sind hart: Nicht nur die Staatsausgaben sollen sinken – etwa durch Entlassungen im Staatsdienst – auch der Lohn soll im öffentlichen und im privaten Sektor radikal gekürzt werden. Überdies wird das Arbeitsrecht durch und durch liberalisiert: Der Kündigungsschutz wird gelockert und es soll mehr befristete Arbeitsverträge geben.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel und ihre Regierung sind energische Wortführer dieser Politik. Was treibt sie an? Sitzen sie einer falschen Theorie auf? Schließlich geben doch eine ganze Reihe seriöser Kritiker zu bedenken, dass Ausgabenkürzungen das Bruttoinlandsprodukt weiter absenken und damit die Steuereinnahmen, was das Defizit noch weiter vergrößert. Oder nimmt Merkel das in Kauf, weil sie andere Ziele verfolgt?

Als Kanzlerkandidatin hat Merkel Anfang 2005 in der Financial Times Deutschland einen sehr grundsätzlichen Aufsatz ("Das Prinzip der individuellen Freiheit") veröffentlicht. In dem Text vertritt sie den Standpunkt Friedrich August von Hayeks (des bedeutendsten Vorkämpfers des Neoliberalismus): Die "historische Mission" von Hayeks Werk "Die Verfassung der Freiheit" sei mit dem "Zusammenbruch der sozialistischen Diktaturen" zu einem Teil erfüllt. "Der andere Teil ist dagegen heute Gegenstand heftiger Diskussionen. Denn die Vorzüge des Wohlfahrtsstaates werden in der politische Diskussion mehr denn je abgewogen gegen die daraus folgenden Probleme einer hohen Staatsverschuldung und einer Lähmung der wirtschaftlichen Antriebskräfte." Ausführlich kritisiert sie in ihrem Beitrag den "ungezügelten Ausbau des Wohlfahrtstaates".

Ein größerer Wohlfahrtsstaat heißt nicht mehr Schulden

Nun ist es falsch, den Wohlfahrtsstaat gleichzusetzen mit Verschuldung. Das zeigt schon ein Blick in die Geschichte. In den USA nahm die Staatsverschuldung während der Präsidentschaft Reagans und der beiden Bushs kräftig zu. Alle drei waren wahrlich keine Verfechter des Wohlfahrtsstaates. Unter Präsident Clinton hingegen, der den Sozialstaat ausbaute, ist die Staatsverschuldung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erheblich gesunken.

Auf dem diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos im Januar machte Merkel in ihrer Rede dennoch deutlich, dass sie an ihren damals formulierten Überzeugungen festhält: Europa sei ernsthaft dabei, seinen Arbeitsmarkt zu "öffnen" und andere Schritte einzuleiten, um das Wachstum zu erhöhen. Nicht nur Sparmaßnahmen, sondern auch strukturelle Reformen führten zu mehr Jobs. "Aber weil es eine Demokratie ist, mag der Fortschritt langsam sein. (…) Aber wir werden nicht mutlos sein beim Verfolgen dieses Projektes."

Verlangsamt also die Demokratie den Fortschritt? Als das Haushaltsrecht des Bundestags beim europäischen Finanzmarktsicherungsfonds zur Debatte steht, sagt die Kanzlerin im Deutschlandfunk Anfang September, dass wir froh seien, in einer Demokratie zu leben und dass das "Budgetrecht ein Kernrecht des Parlaments" sei. Zufrieden aber scheint sie damit nicht zu sein. Denn gleich danach bemerkt sie: "Insofern werden wir Wege finden, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist (…)."

In Davos bittet sie die anwesenden Wirtschaftsführer um Geduld. Man müsse "den Atem haben, diese Reformen auch wieder wirken zu lassen." Die Geschäftswelt solle die Vorteile der Demokratie nicht aus dem Auge verlieren – und "den Nachteil der Langsamkeit dann auch demutsvoll hinzunehmen." Sie wirbt also um Verständnis für die – wie sie es offenbar sieht – Mängel der Demokratie, also deren Langsamkeit. Sie will daran arbeiten, sie marktkonform zu machen. Vor der größeren Öffentlichkeit aber möchte Kanzlerin Merkel diese Bemerkungen in Davos doch lieber verbergen. Alle hier zitierten Passagen haben Journalisten der New York Times und von Welt Online aufgeschrieben – im offiziellen Redetext der Kanzlerin sind sie nicht zu finden.

Dem Fortschritt in Form eines niedrigen Lohns und eines deregulierten Arbeitsmarktes steht die Demokratie entgegen, wenn die Mehrheit der Bevölkerung (die abhängig Beschäftigten, die Altersrentner) in ihrem Interesse eine andere Lösung für möglich hält. Soll deswegen eine etwas veränderte, eine marktkonforme Demokratie her? Der Widerspruch zwischen Mehrheitsinteresse und Auflagen manifestiert sich in Streiks und Demonstrationen – besonders ausgeprägt in Griechenland. Die Regierungen der Krisenländer wiederum repräsentieren im Großen und Ganzen das Interesse von gesellschaftlichen Schichten, die mit den Auflagen durchaus einverstanden sind – auch wenn diese Regierungen, wie kürzlich in Spanien oder Portugal, von der Mehrheit gewählt sind. Das ist der Konflikt. An der Sparpolitik wird nicht festgehalten, weil sie die Defizite tatsächlich verringerte, sondern weil mit ihr der Lohn und die Standards des Arbeitsrechts verschlechtert werden können. Allgemein gerechtfertigt wird dies mit der bekannten – mythischen – Formel, wonach ein "offener", ein nicht "verkrusteter" Arbeitsmarkt zu mehr Wachstum führt.

Wie sehr die Regierungen der Krisenländer mit den Auflagen der Geldgeber zufrieden sind, kam durch Zufall Anfang Februar in die Öffentlichkeit: Der spanische Ministerpräsident Mariano Rajoy brüstet sich gegenüber dem finnischen Regierungschef, dass ihm die Arbeitsmarktreform einen Generalstreik einhandeln würde. Und Wirtschaftsminister Luis de Guindos sagt dem europäischen Währungskommissar Olli Rehn, diese Arbeitsmarktreform sei "extrem aggressiv" und "extrem umwälzend". Beide haben recht.

Es ist also falsch, einfach zu behaupten, die deutsche Regierung erpresse die Krisenländer: Die Frontlinie verläuft zwischen den gesellschaftlichen Interessen: Hier das Interesse der abhängig Beschäftigten und Altersrentner, dort das Interesse der Unternehmerschaft – die Finanzunternehmen ausdrücklich eingeschlossen. Und falsch ist auch zu vermuten, dass ein großer, gut ausgearbeiteter Plan hinter all dem steckt. Vielmehr folgt eines aus dem anderen. Alles hat damit angefangen, dass nicht sogleich im Jahr 2009 die Europäische Zentralbank sich beherzt an die Eindämmung der Krise gemacht hat. Schon damals kritisierte Nobelpreisträger Krugman in der New York Times die Holzköpfigkeit der deutschen Regierung.

Die Sparpolitik wird so lange fortgeführt bis ihr eigentlicher Zweck erreicht ist. Ob sie aufgegeben wird wegen Streiks und Unruhen, ist fraglich. Es kann sein, dass ein Ausscheiden Griechenlands aus der Euro-Zone in Kauf genommen wird, um den Erfolg für die "strukturellen Reformen" in Italien, Spanien oder Portugal nicht zu gefährden. Nachgiebigkeit verringert die Aussicht auf Erfolg. Und überdies würde die Euro-Zone um gemeinschaftsfremde Staaten bereinigt – also Staaten, in denen der Widerstand der Bevölkerung sehr ausgeprägt ist.

Am Ende dieses Prozesses kann wieder mit Wirtschaftswachstum und einer Zunahme der Beschäftigung gerechnet werden, wenngleich von einem äußerst niedrigen Niveau aus. Zunächst sind in den Krisenländern steigende Exporte und sinkende Importe zu erwarten. Dies begünstigt ihr Wachstum. Dies ist dann der Fall, wenn das Bruttoinlandsprodukt in den Krisenländern kräftig sinkt. Mangels Einkommen nehmen die Importe der Krisenländer ab, während die Importe der Handelspartner zunehmen, soweit ihre Wirtschaft noch wächst. Ein Teil der Importe der EU-Handelspartner (und anderer Länder) aber sind die Exporte der Krisenländer. Möglicherweise kann das sogar zu Exportüberschüssen der Krisenländer führen. Das war die Strategie des IWF vor rund 30 Jahren in der Schuldenkrise der Entwicklungs- und Schwellenländer: In eine Rezession eintreten und Handelsbilanzüberschüsse erwirtschaften. Weiterhin fördern überaus niedrige Lohnkosten den Export. Das ist auch attraktiv für Direktinvestoren, die für den Export produzieren – nicht zuletzt für chinesische Unternehmen, zumal in China selbst in vielen Branchen die Löhne steigen.

Zweitens wird die Konsumnachfrage gestärkt, wenn bei sinkendem Einkommen die Konsumausgaben nicht absolut, aber relativ zum Volkseinkommen zunehmen. Dies ist der Fall, wenn die Bevölkerung so sehr verarmt, bis sie nicht mehr spart. Das bremst das Schrumpfen des Bruttoinlandsproduktes.

Drittens schließlich wird es von einem bestimmten Punkt an Ausgabenprogramme geben, die von der EU finanziert werden. Schon jetzt hat die deutsche Regierung den Europäischen Strukturfonds in die Debatte gebracht, um eine Entwicklungsperspektive aufzuzeigen. Tatsächlich wird es sich dann um Programme handeln, die die Europäische Investitionsbank finanziert. Nimmt schließlich bei niedrigen Löhnen das Wachstum zu und die Arbeitslosigkeit ab, dann wird dies als Beweis herausgestellt für die günstigen Wirkungen von geringen Löhnen und einem geringeren Schutz durch das Arbeitsrecht.
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