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Smultronstället II.
Interessant! In vielerlei Hinsicht sind meine Vorlieben ganz ähnlich. Es dürfte auch eine recht populäre Einordnung sein, die weite Teile des Publikums so in etwa unterschreiben könnten. Also die Neunte von Dvorak und das "amerikanische Streichquartett" zum Beispiel sind wesentlich populärer als die Siebte, das Cellokonzert populärer als Violinikonzert; bei Wagner ist Tristan und Isolde populärer als die Götterdämmerung; bei Bach der Actus Tragicus populärer als die Kunst der Fuge, usw.
Aber apropos Wagner: Stefan Mickisch hat mal sinngemäß gesagt, dass seiner Meinung und Einschätzung nach die künstlerische Laufbahn vieler Komponisten wie bei so einer Gaußkurve verläuft, wo sie sich langsam auf den Höhepunkt hinarbeiten aber dann auch langsam wieder absteigen, weil es zuviel des Guten wird, sie ihr Pulver verschossen haben oder so eine sperrige experimentelle Spätphase folgt. Und da ist vielleicht was dran! Es mangelt ja nicht an Opernliebhabern, die Tristan und Isolde für den Höhepunkt von Wagners Schaffen halten. Und man kann es sicher auch für den Höhepunkt der Romantik halten. Mehr "Romantik" als Tristan und Isolde ist nicht vorstellbar und dann ja auch in der Tat nicht mehr gekommen. Beim späten Wagner gibt es mir auch zu viele Längen und zu viel obskure Handlung. Oder bei Bach: die Kunst der Fuge ist zwar beeindrucked, aber sie ist doch in vielerlei Hinsicht eher intellektuell beeindruckend. Wie da die Motive verschoben werden und die eine Stimme spielt das Motiv, während die andere Stimme zeitgleich das Motiv spiegelverkehrt spielt, usw. Beeindruckend, wie auch die Arbeit eines Programmierers oder so beeindruckend sein kann, ohne dass mich diese emotional und affektiv jetzt irgendwie berühren würde.
Beethoven: das Spätwerk sagt mir wenig, die späten Streichquartette, selbst die späten Klaviersonaten. Beethoven ist in der Hinsicht ja das Musterbeispiel für eine sperrige und experimentelle Spätphase. Wobei mich Beethoven an sich nie so interessiert hat. Für die Stimme konnte der Mann ohnehin nicht schreiben. Klar, die paar Sekunden "Freude schöner Götterfunken" sind sehr populär, aber die zwanzig Minuten drumherum sind doch nur noch Geschrei und Gelärm. Noch schlimmer ist nur die Missa Solemnis, die selbst John Elliot Gardiner nicht retten kann. Kontrapunkt und Stimme waren imo einfach nicht die Stärken Beethovens. Da ist mir die mittlere Phase am liebsten.
Wobei man natürlich bedenken muss, dass unterschiedliche Gattungen immer auch unterschiedliche Zielgruppen anvisiert haben. Insofern lässt sich das Werk von Komponisten nicht bloß einfach in Früh-, Mittel-, und Spätphase einteilen. Also die Symphonien zum Beispiel waren ohnehin immer für ein großes Publikum gedacht und sollten auch entsprechend eingängig sein, während die Kammermusik und die Streichquartette seit Mozart und Haydn nie für ein größeres Publikum, sondern für sogenannte "Liebhaber" geschrieben wurde, die idealerweise selber eine der Stimmen übernehmen oder mit Partitur mitlesen. Also Gottfried van Swieten im Kreis von Mozart zum Beispiel, das war so ein Mäzen und "Liebhaber." Insofern sind natürlich oft gerade die Streichquartette diejenigen Werke, die viel anspruchsvoller und komplexer sind als die Symphonien. Oder bei Shostakovich und den sovietischen Komponisten einfach die Gattung, wo sie freier komponieren konnten, weil bei den großen Werken soviel Druck von der stalinistischen Diktatur kam. Bei den Streichquartetten konnte sich Shostakovich austoben, bei den Symphonien war einfach der politische Druck viel größer, insofern zählen dann auch zu den größten Werken zum Beispiel das achte Streichquartett.
Bei Schubert und Mozart wieder ist jetzt natürlich das Problem, dass die sehr jung gestorben sind, aber gerade bei Mozart kann man das Werk trotzdem noch sehr deutlich in einzelne Phasen einteilen. Das große Werk fängt sicher mit dem Jeunehomme-Konzert an, das "Wunder", das "plötzlich da" war, laut Alfred Brendel. Gibt da diesen schönen Text von ihm, wo er das analysiert, aber den finde ich gerade nicht und bin jetzt auch zu faul, um im Keller zu suchen. Aber er beschreibt halt sehr schön dieses Konzert, wie es sich von anderen Konzerten abhebt und wie hier erstmals das Genie Mozarts wirklich durchscheint, dass da diese typische mozartsche "Sprache" ist, diese dezente Melancholie mit der zarten Freude gemischt, die dann den Eindruck erweckt, als wäre Mozart gleichzeitig altersweise und kindlich verspielt.
Für mich ist in der Hinsicht auch Mozart oft auch der Höhepunkt, weil diese emotionale Ambivalenz, die er wie kein anderer in Musik übersetzen konnte, ja dem Leben einfach ... vielleicht am nächsten kommt. Das Leben ist schön, aber es ist auch traurig, da sieht man vielleicht ein Bild von einem verstorbenen Angehörigen und das tut weh, aber gleichzeitig kommen auch schöne Erinnerungen, usw. und so ist auch die Musik.
Die gesamte Spätromantik gerade finde ich oft überladen, gerade dieser schrecklichen Virtuosenkult. Bach ja war wenigstens noch intellektuell beeindruckend, selbst wenn er eher Schachaufgaben komponiert zu haben scheint. Aber wenn es nur noch so eine Zirkusnummer ist, wo man halt bewundert, wie schnell jemand die Finger bewegen kann, ist es einfach ... da gucke ich lieber gleich Sport. Glenn Gould hat ja seinen Rückzug aus dem Konzertsaal mit der Aussage begründet, dass die Konzerthäuser leider nicht die "Fortsetzung" der Kirche seien sondern die "Fortsetzung" der römischen Gladiatorenarena. Und bei mancher spätromantischer Virtuosenmusik kann man wirklich an eine Arena denken. Auch hier liebe ich Mozart, weil die Musik den Pianisten kaum die Möglichkeit gibt, eitel zu sein und anzugeben.
So, jetzt habe ich aber auch keine Lust mehr, weiterzuschreiben.