Die Revolte der Publizisten
Im Januar 1966 stellte die literarische Monatsschrift „Tvar" teils zwangsweise, teils freiwillig ihr Erscheinen ein. Der Chefredakteur hatte es abgelehnt, den Kreis seiner Mitarbeiter nach den Vorschlägen der Partei umzubesetzen, und das Redaktionskolle*gium schlug die angebotene Subvention von 71.000 Kronen als zu geringfügig aus.
Im Herbst 1966 etablierte sich eine „Hauptverwaltung für das Pressewesen". Diese Zensurbehörde beobachtete besonders kritisch die Zeitschrift „Literarni Novniy" und hat oft für die Veröffentlichung vorgesehene Manuskripte beschlagnahmt. Trotzdem gelang es der Redaktion, ein Interview des Schriftstellers Vaculik durchzuschmuggeln, der die Funktionäre des Kulturministeriums als „wohlgenährte Typen, deren Gesichter die Ausdruckslosigkeit von Hinterteilen haben", charakterisierte.
Im Juni 1967 trat der Kongreß des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes zu*sammen. Auch bei dieser Gelegenheit ergriff Vaculik das Wort. Er setzte sich mit dem Novotny-System als einem Regime der negativen Auslese auseinander: „Bei jeder Aus*lese schnitten am besten die durchschnittlichen Menschen ab, und von der Bühne ver*schwanden die komplizierteren Menschen. Und jetzt bedenken wir, daß sich schon seit zwanzig Jahren diejenigen am erfolgreichsten durchsetzen, die den geringsten Wider*stand gegen alle demoralisierenden Einflüsse, die die Macht produziert, haben."
Der Schriftsteller sah die Gefahr der Restauration des Stalinismus und verlangte Garantien der Bürgerfreiheit. Die Mehrheit der Delegierten sprach sich gegen die Zensur aus. Es kam zu turbulenten Szenen. Der Tagungsleiter ließ unter dem Protest der anwesenden Parteivertreter darüber abstimmen, ob der Brief des sowjetischen Schriftstellers Solsche*nizyn gegen die Unterdrückung der Literatur verlesen werden sollte. Die Kongreß*delegierten erklärten sich einmütig für die Verlesung. Daraufhin sprang der Partei*ideologe Hendrych auf und rief: „In diesem Augenblick habt ihr Schriftsteller es euch verschissen!"; er verließ den Saal, um den sowjetischen Botschafter zu informieren. Aus dem kleinen Oppositionskreis um die Zeitschrift „Literarni Noviny" war eine große Opposition geworden. I
Doch der konservative Parteiflügel, noch immer im Besitz der Macht, schlug unver*züglich zurück. Im Juli kam es zu einem Prozeß gegen die Schriftsteller Tigrid, Benes und Zemecnik; im August verlor Mnacko seine Staatsbürgerschaft, weil er Israel gegen antisemitische Ausfälle in Schutz genommen und die Tschechoslowakei verlassen hatte; im September wurden die Schriftsteller Vaculik, Liehm und Klima aus der Partei ver*stoßen. Es gelang den Konservativen sogar, den im Oktober 1967 tagenden Journalistenkongreß auf ihre Linie zu zwingen.
Dagegen waren zwei andere Maßnahmen der Konservativen ohne Erfolg. Als die Zeit*schrift „Literarni Noviny" in die Regie des Kultusministeriums überging und die Zeit*schrift „Host do domu" in die Hände einer Untersuchungskommission fiel, erklärten sich viele Leser mit den scheidenden Redakteuren solidarisch. Beispielsweise erschien eine Stahlarbeiterdelegation aus Kladno in Prag, um den abgesetzten Redakteuren der „Literarni Noviny" materielle und moralische Unterstützung anzubieten.
Nachdem die Zeitschrift unter einem neuen Chefredakteur mit dem Impressum des Kultusministeri*ums erschien, kündigten 100.000 von 120.000 Abonnenten. Was „Host do domu" be*trifft, so übernahm der Reformer Spacek als Parteisekretär die gesamte Redaktion in jene Untersuchungskommission, die zur Liquidation der Zeitschrift eingesetzt war.
Hendrych erklärte die faktische Auflösung des Schriftstellerverbandes, an dessen Stelle ein parteitreues Schriftstelleraktiv treten sollte. Der Verband bildete jedoch zur pro*visorischen Weiterführung seiner Geschäfte einen eigenen leitenden Ausschuß, der den parteitreuen Hejak als Chefredakteur der „Plamen" wegen seiner Unterstützung Hen*drychs entließ. Erst drei Wochen nach Novotnys Sturz als Parteichef konnte die Orga*nisation der Schriftsteller wiederhergestellt werden. Ende Januar 1968 wählte sie Pro*fessor Goldstücker zu ihrem Präsidenten. Der reorganisierte Verband forderte Novotny auf, auch als Staatspräsident zurückzutreten und sich wenigstens durch den freiwilligen Verzicht auf dieses Amt als Kommunist zu erweisen.
Mit dem Parteivorsitzenden trat zwar eine ganze Reihe von belasteten Funktionären ab, doch die meisten beharrten auf ihrem Posten und nutzten ihn zur Bremsung der angelaufenen Reformen.
Am bedenklichsten war eine antisemitische Welle. Wie in Polen, so wurde auch in der Tschechoslowakei nach „zionistischen Drahtziehern" der Unruhe gesucht. In anonymen Flugblättern lebte Hitlers jüdische Weltverschwörung wieder auf. Viele Reformer, an erster Stelle Sik, Goldstücker, Kriegel und Pavel, erhielten Drohbriefe. Professor Gold*stücker wurde als „Agent des Westens" und als „zionistische Hyäne" bezeichnet, den gemeinsam mit Slansky zu hängen leider versäumt worden sei. Einige Verfasser von Droh- und Schmähbriefen bedauerten, daß Hitler zur restlosen Vernichtung der Juden nicht genügend Zeit gehabt hatte. Reformer jüdischer Herkunft galten meist auch als „jugoslawische Agenten".
Diese beiden Züge der Situation waren der Hintergrund des Manifestes der zweitau*send Worte vom 27. Juni 1968, das der Schriftsteller Vaculik verfaßte. Er war indes nur der Sprecher einer Gruppe von 67 demokratischen Kommunisten, die den Appell unterzeichneten. Das Manifest schilderte zunächst die innenpolitische Entwicklung der letzten 20 Jahre seit der kommunistischen Machtübernahme im Februar 1948. Das Volk hatte dem Sozialismus hoffnungsvoll entgegengesehen, doch die Regierung geriet in falsche Hände und die Kommunistische Partei tauschte das in sie gesetzte Vertrauen gegen Ämter ein.
Alle Macht konzentrierte sich bei einer kleinen Clique, die sich für auserwählt hielt. Nicht einmal die kommunistischen Organisationen gehörten mehr ihren Mitgliedern. Der größte Betrug bestand jedoch darin, daß die herrschende Gruppe ihren Willen für den der Arbeiterschaft ausgab. Viele Kommunisten kämpften erfolg*los gegen diese Entartung an, und nun ist die letzte Gelegenheit gekommen, das Un*recht wiedergutzumachen. Die seelische Gesundheit und der Charakter des Volkes sind bedroht, aber der Erneuerungsprozeß konnte nirgends anders als in der Kommunisti*schen Partei selbst beginnen. Eine Erneuerung ohne oder gar gegen die Kommunisten wird es nicht geben. Es kommt darauf an, den progressiven Flügel ihrer Partei zu unterstützen gegen jenen großen Teil der Funktionäre, der sich gegen alle Änderungen stemmt. Vorerst besteht nur die Freiheit des Wortes, und sie muß als Hebel für wei*tere Fortschritte dienen. Niemand sollte Illusionen hegen, daß die Wahrheit von selbst siegt. Entscheidend wird sein, was in der Wirtschaft und mit den Fabriken geschieht. An der Spitze zeigt sich ein gewisses Ermatten der dynamischen Bewegung, daher sollte die Aktivität in die Bezirke, Kreise und Gemeinden verlagert werden.
Das Manifest empfahl die Aufgliederung des Aktionsprogramms der Partei. Die Kom*munisten müssen mit lokalen Programmen vor die Öffentlichkeit treten. Aber die Parteimitglieder dürfen nicht auf Weisungen warten. Es ist vielmehr nötig, daß sie schon jetzt die richtigen Delegierten für den bevorstehenden 14. Parteitag auswählen. Ebenso müssen qualifizierte Wirtschaftler gesucht und an die geeigneten Stellen gesetzt werden. Die Betriebsdirektoren sollen der Bevölkerung Rechenschaft geben, was sie her*stellen und zu welchen Preisen sie die Waren zu verkaufen gedenken. Die Arbeiter sollten nur Leute ihres Vertrauens ohne Rücksicht auf Parteizugehörigkeit in die Be*triebsverwaltungen und Betriebsräte wählen.
Obwohl die Zeit der berauschenden Proklamationen bereits vorüber ist, hat sich der Kampf nur unter die Oberfläche verzogen, ohne schon gänzlich entschieden zu sein. „Wir fordern den Rücktritt jener Leute, die ihre Macht mißbraucht haben, die das öffentliche Eigentum geschädigt haben, die ehrlos und grausam gehandelt haben. Es ist jetzt möglich, Methoden zu entwickeln, um sie zum Rücktritt zu zwingen. Zum Bei*spiel: öffentliche Kritik, Resolutionen, Demonstrationen, demonstrierende Arbeitsein*sätze, Geldgeschenksammlungen für sie, um sie mit einer Rente abzufinden, Streik und Boykott. Es müssen aber Aktionen verhindert werden, die nach dem Gesetz nicht erlaubt, die unanständig und grob sind, sonst könnten sie zur Beeinflussung Alexander Dubceks mißbraucht werden ... Beleben wir die Tätigkeit der Nationalen Front.