Jüdische Kontingentflüchtlinge und Russlanddeutsche
In den 1990er und Anfang der 2000er Jahre migrierten sogenannte "jüdische Kontingentflüchtlinge" aus der Sowjetunion in die Bundesrepublik Deutschland. Wie kam es zu der jüdischen Migration? Was bewirkte sie? Und wie hängen die Migration von jüdischen Kontingentflüchtlingen und von Russlanddeutschen miteinander zusammen? (...)
Rechtlicher Rahmen: "Kontingentflüchtlinge"?
Am 9. Januar 1991 tagte die Ministerpräsidentenkonferenz des wiedervereinigten Deutschlands, auf der ein zweiter Akt einer getarnten Symbolpolitik in Bezug auf die russischen Juden besiegelt wurde: Die "jüdischen Zuwanderer", wie sie fortan heißen sollten, kamen nach wie vor ohne eindeutige Rechtsgrundlage. Eine "jüdische Emigration" nach Deutschland gab es offiziell nicht. Auf sie wurde jedoch das Kontingentflüchtlingsgesetz angewendet. Das heißt: Die Juden kamen "als wären sie" Kontingentflüchtlinge. Zur Legitimierung der jüdischen Migration brauchte man eine juristische Grundlage und eine symbolpolitische Erklärung.
Anders als z.B. im Fall vietnamesischer "Boatpeople", musste der Tatbestand der Verfolgung im Fall der Juden nicht nachgewiesen werden. Juden aus der untergehenden Sowjetunion emigrierten nach Deutschland, ins Land des Holocaust, unter Ausschluss einer breiteren Öffentlichkeit. Jene wusste lediglich, dass wieder "Ostjuden" kommen, aber nicht, unter welchen Voraussetzungen. Einer auf Symbolpolitik gründenden jüdischen Migration nach Deutschland nach der Shoa wurde ein rechtlicher Rahmen gegeben.
Parallelen jüdischer und russlanddeutscher Einwanderung
Die jüdische Einwanderung weist zahlreiche Parallelen mit der Einwanderung von ca. 2,4 Millionen "Spätaussiedlern" aus der ehemaligen Sowjetunion (seit 1987) auf. Gleichzeitig bestehen wesentliche, nicht nur numerische Unterschiede. Verwaltungstechnisch haben Russlanddeutsche gegenüber jüdischen Kontingentflüchtlingen den Vorteil, sofort die deutsche Staatsbürgerschaft und deutsche Renten für ihre Berufstätigkeit in der ehemaligen UdSSR zu bekommen. Demgegenüber markieren die erleichterten symbolpolitischen Voraussetzungen (Minimum an Nachweispflicht diverser Zugehörigkeitskriterien wie Sprache, Familiengeschichte, kulturelle Eigenschaften zwischen 1991 und 2004) gewisse Vorteile für die Gruppe jüdischer Kontingentflüchtlinge. Die Lebensbedingungen in Aufnahmestellen, in Übergangslagern, ein dauerhaftes Wohnheim-Dasein und vor allem ein massiver sozialer Abstieg in der Bundesrepublik verbinden die deutschen "Rückkehrer" und die jüdischen "Zuwanderer" in den 1990er und den frühen 2000er Jahren.
Mitglied einer "Schicksalsgemeinschaft" zu sein, gehört zum Selbstverständnis vieler Deutscher aus der ehemaligen UdSSR: Die Tragödien sowjetisch-deutscher Geschichte (Deportation, das Verbot, sich wieder in den Herkunftsorten anzusiedeln und bestimmte Berufe auszuüben) vereinigen Teile der russlanddeutschen Gruppe bis heute. Manche schöpfen aus diesen Erfahrungen der (Groß)Eltern ihre Identität.
Mindestens 2,2 Millionen Juden wurden auf dem Territorium der UdSSR durch die Nationalsozialisten und ihre Gehilfen im Holocaust ermordet. Trotzdem sehen sie sich nicht oder nicht in vergleichbarem Maße als "Schicksalsgemeinschaft". Nicht wenige Vertreter der postsowjetisch-jüdischen Einwanderer empfinden sich gar als "Sieger" des Zweiten Weltkriegs: Ihre (Groß)Eltern hätten den Faschismus als Rotarmistinnen und Rotarmisten besiegt und die Menschheit mit befreit. Dafür waren Hunderttausende Juden, die durch den Holocaust und den Krieg massive Verluste in ihren Familien zu beklagen hatten, bereit, sich als Teil eines "sowjetischen Volkes" zu betrachten. Der staatliche und nicht zuletzt der alltägliche Antisemitismus in der Sowjetunion standen diesem Bestreben entscheidend im Weg. Man könnte meinen, die sowjetischen Juden, die trotz ihrer starken Assimilation in der UdSSR massivem Antisemitismus ausgesetzt wurden, seien als "Kontingentflüchtlinge" mit ihren migrantischen Themen und Problemen symbolisch in eine Schicksalsgemeinschaft der Post-Holocaust-Judenheit in Deutschland eingewandert. Eine gemeinsame Sprache ist innerhalb der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands bis heute nicht gefunden worden. Es besteht die Hoffnung, dass eine plurale jüdische Identität diese "Sprache" liefern könne.
Die Symbolpolitik und die Erinnerungskulturen prägen die postsowjetischen Juden und die Russlanddeutschen stark, jedoch nicht entscheidend. Die soziale, politische, kulturelle und religiöse Realität in Deutschland sind für beide Gruppen von ausschlaggebender Bedeutung.
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