Erinnert Ihr euch noch an Euren ersten Moment, als es mit der kindlichen Naivität vorbei war?
Wenn hier Menschen zu uns kommen, dann ist es mir egal, woher sie kommen, ob sie nun gesetzlich dürfen, ob sie „Flüchtling“ oder „Wirtschafts–Flüchtling“ oder „illegal“ oder „anerkannt“ hier sind. Ich halte auch nichts von Schranken und schon gar nichts von Mauern.
Ich kann mich gut erinnern, als ich als 10-jähriges, gut behütetes, blondes, kleines Mädchen zum ersten Mal auf der Straße des 17. Juni stand und in den Osten schaute. Für mich brach in diesem Moment der Glaube, dass die, die das Sagen haben, schon alles richtig machen würden, wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Heute denke ich, es war der erste, mir bewusste Moment, in dem meine kindliche Naivität einen merklichen Riss bekam.
Im Rückblick will ich mal sagen: Das war gut so. Aber bis heute ist es schwer für mich zu ertragen, dass es viele mächtige Menschen gibt, die a) ihrem Einfluss bei Weitem nicht gewachsen sind, viel Scheiße bauen und sich dennoch an ihrer Position festkrallen können wie King Kong am Empire State Building und b) dass wir uns das dann immer noch so lange gefallen lassen müssen und wir bislang keine funktionierende Struktur etabliert haben, damit solche Dusselköpfe, die Finanzsystem zum Einstürzen bringen, Länder in tiefe Staatsverschuldung oder in die Isolation reißen und treiben, Kriege ohne Sinn vom Zaum brechen oder Ölkatastrophen und Atomtests zu verantworten haben, vorzeitig außer Gefecht gesetzt werden können. Obwohl, in Deutschland klappt es ja zurzeit ganz gut …
Keine Sorge, es ist erst der Anfang …
Am Heiligen Abend hatte ich Aboud und noch zwei andere Syrer zu Besuch, wir kochten und tauschten uns aus. Smarte Männer, klug, gutaussehend, gut erzogen, kultiviert. Kämen sie nicht aus Syrien sondern aus Deutschland stünde ihnen die Welt offen. Aboud würde einen Club leiten, Aboudid eine steile Unternehmenskarriere bei SAP machen, Abdoulrahman wäre Ressortleiter der Süddeutschen Zeitung. Sie würde so leben, wie in Syrien mit guten Jobs, in großbürgerlichen, großzügigen Wohnungen und Häusern, oder einem schönen
[Links nur für registrierte Nutzer], mit vielen Freunden und einer sich sorgenden und immer erreichbaren Familie. Jetzt wohnen sie hier im Heim und haben nichts.
Aboud erzählte viel, dass man ihm immer wieder gesagt hätte, dass er als Kind schwierig war, dass er viel Prügel einstecken musste, dass es aber auch irgendwie normal sei. Ich erklärte ihm, dass es bei uns verboten ist, Kinder zu schlagen. Und dass Eltern, die das tun, bestraft werden können. Aboud nickte.
Es ist nicht leicht. Aber es wird nicht besser durchs Jammern
Er möchte eine Freundin, sagte Aboud. Aber wen solle er beeindrucken, er sei ein Flüchtling. Er habe kein [Links nur für registrierte Nutzer]. „Aboud„, sagte ich, „hör auf mit dem Kram. Dem Jammern, dem Selbstmitleid. Krieg Deinen Arsch hoch. Wir wissen: Es ist nicht einfach. Das gilt aber für alle. Daher: Streng dich an.“ Er nickte.
Ich fragte ihn, was er mit seinem Leben anstellen wolle, was er machen möchte. Er lachte und sagte: „Weed anbauen“. Dann sagte er: „Koch werden.“ „Dann musst du Deutsch lernen“, sagte ich. Er lachte. Nickte, lachte. Schüttelte den Kopf. Ich wurde nicht schlau aus ihm.
Ich beschaffte ihm einen Platz bei meinem [Links nur für registrierte Nutzer], cooler Typ, der u.a. ein kleines Café betreibt. Aboud stellte sich vor: „Ich hasse ISIS, ich hasse den Islam„, waren einige seiner ersten Worte. Er wollte damit beeindrucken, doch Bulle sagte: „Eins muss dir klar sein, wenn du hier arbeiten willst: Wir hassen niemanden. Leg deinen Hass ab, wenn du den Laden betrittst.“ Aboud nickte.
Nach 14 Tagen wollte er nicht mehr zu Bulle. Er fühlte sich nicht mehr wohl. Aber er sagte, man hätte ihn rausgeworfen. Das war seine erste Lüge. Es kamen noch mehr.
Mich beschlich ein ungutes Gefühl
Ich sprach mit ihm, übersetzte, brachte die Dinge ins Reine, redete Aboud ins Gewissen. Er straffte sich und versuchte, zu funktionieren. Mich beschlich langsam ein ungutes Gefühl …
Aboud wechselte seine Klamotten nicht, er hatte keine Ideen, was er mit sich anfangen sollte. Ich fing an, ihn zu begleiten, zu umsorgen, ihn wie einen Sohn zu behandeln. Er nahm immer mehr Zeit in Anspruch. Er schmiss seine dreckigen Sachen in meinen Wäschekorb, damit ich sie für ihn waschen sollte. Es wurde anstrengend. Für uns beide.
Er müsse Deutsch lernen, wenn er Koch lernen möchte, wenn er überhaupt im Land bleiben möchte. Das sagten ihm alle. Er brauche einen geregelten Tagesablauf, nicht so viel nachts unterwegs sein, nicht so viel trinken. Nicht die ganze Nacht auf Facebook chatten und dann bis 14, 15 Uhr am Nachmittag schlafen. Er nicke.
Es ging noch zwei Wochen gut. Ich hatte Aboud ein Fahrrad, einen Deutschkurs und eine Aussicht auf einen Ausbildungsplatz organisiert. Was noch offen war, war seine dauerhafte Anerkennung als Flüchtling. Er fing an sich zu beschweren. Es liege an den Behörden, an der Willkür. Was Quatsch war. Er hatte zu oft gelogen und er hatte sich nicht gekümmert.
Er verteidigte die strikte sexuelle Moral, die muslimischen Frauen auferlegt wird, sagt, es sei richtig so und es wäre nun mal so geregelt, dass ein Vater seine Tochter tötet, wenn sie nicht mehr Jungfrau sei, bevor sie heirate, was soll er da sagen.
Als ich fragte, welches vernünftige Argument denn dafürspreche, dass ein Vater seine eigene Tochter ermorden darf, nur weil sie sexuelle Erfahrungen sammeln möchte, nickte Aboud nicht mehr. Er zog die Schultern hoch und blieb stumm. Es war das falsche Thema, das wussten wir beide. Und es zeigte, wie zerrissen er innerlich war.
Jeder sollte sich fragen, auf welcher Seite er stehen möchte
Zwei Tage später war der Ofen aus. Nachdem er wieder auf Deutschland geschimpft hatte, eigentlich auf die ganze Welt, die sich gegen ihn verschworen habe, konnte ich nicht mehr: „Aboud, alles, was falsch läuft in deinem Leben liegt einzig und allein an einer Person: dir.“ sagte ich streng. Doch es ging ihm nicht darum. Er wollte, dass sich jemand um ihn kümmert. 24 Stunden lang. Für mich kam das nicht in Frage.
Aboud ging seines Weges. Er war wütend. Ich rief ihn später an, weil ich mir Sorgen machte. Er log wieder, wollte zurückkommen, dann wieder nicht. Dann wollte er, dass ich ihn mitten in der Nacht anrufe und war beleidigt als ich das nicht machte. Er wurde für mich zu einem unberechenbaren Menschen. Wohnen kann man dann nicht mehr zusammen. Das wusste auch Aboud. Er hatte es verbockt. Er wird daraus lernen.
Was dann noch nervig war, dass er mich bedrohte, mich beschimpfte und selbstgerechten Quatsch tratschte – ein junger Mann, der sich irgendwie über sich selbst ärgert, dass aber nicht wahrhaben will und daher den Fehler immer bei den anderen sucht … Ein wenig unsympathisch fand ich aber schon, dass er ein Typ ist, der vor allem Bestätigung braucht. Der sich dumme Menschen sucht, die er für sich gewinnen kann, anstatt schlaue Menschen, um zu wachsen. Aber das hat nichts mit Nationalität zu tun. Das gibt es nun wirklich überall. Außerdem bin ich überzeugt: Aboud wird seinen Weg machen, da habe ich überhaupt keine Sorge …
Außerdem: Was soll’s?! Es gibt ja genug zu tun … Ich helfe, ich spende, ich versuche, Deutsch zu unterrichten, weil ich finde, dass es einfach besser ist, als nichts zu tun.