Die Pervertierung des Volksbegriffs
Die nationalistischen Sozialisten pervertierten den Volksbegriff, indem sie ihn aus seinem gewachsenen, seinem philosophisch-historischen Kontext einer Nation im Herzen Europas heraus rissen. „Volk“ stand nicht länger als Nation für die einende Idee von Menschen, die auf eine bald 1.200-jährige, wechselvolle Geschichte zurückblickten, die im Guten wie im Bösen durch gemeinsame Mythen, Werte und Philosophien verbunden waren. Statt diesen Schmelztiegel europäischer Menschen und Ideen, der im 19. Jahrhundert in der deutschen Identität seine einigende Klammer im deutschen Bundesstaat gefunden hatte, in seiner philosophischen Tiefe zu begreifen, bastelte sich der Kleingeist ein pseudobiologisches Instrument der Menschentrennung, in dem „Deutscher“ nur noch sein durfte, wer dem Anschein nach über einen nordgermanischen Stammbaum verfügte. Die zermürbten Menschen des Reichs retteten sich in ihrem Schmerz über den teils selbst verschuldeten, teils aufgezwungenen Niedergang in die Vision einer historischen „Herrenrasse“, von der Vorsehung bestimmt, in genetischer Reinheit die Welt zu beherrschen. Und sie verdrängten dabei bewusst, dass dieses deutsche Volk selbst seit der Antike ein Konglomerat der Menschen war, die hier im Herzen des Kontinents aus Nord und Süd, Ost und West zusammentrafen, Kinder zeugten und gemeinsam ihre Zukunft gestalteten. Plötzlich durften Teile dieser deutschen Nation von Europäern nicht mehr Teil des Volkes sein. Sie wurden erst ausgegrenzt, dann verfolgt und ermordet.
Das deutsche Volk ging, verführt durch Menschen, die das Deutschtum vergewaltigten und die Würde ihrer Nation zerstörten, unaufhaltsam den Weg in das dunkelste Kapitel ihrer Geschichte, enthauptete sich selbst seiner geistigen Eliten in der dumpfen Vorstellung pseudobiologischer Überlegenheit.
Zurück zur Nation
Als dieser zivilisatorische Niedergang am Ende eines selbstverschuldeten Krieges überwunden schien, versuchten die Überlebenden anzuknüpfen an die Würde der Nation, die 1871 den gemeinsamen Staat begründet hatte. Deutscher sollte wieder sein, wer deutsch fühlte und deutsch dachte, ohne dabei dem Irrweg der Vorstellung von einer genetisch verifizierbaren germanischen „Rasse“ zu folgen. Deshalb schrieben die Verfasser des Grundgesetzes 1949 in ihre Präambel, dass sie auch für jene Deutschen handelten, „denen mitzuwirken versagt war“. An all jene, die sich als „das gesamte Deutsche Volk“ der deutschen Nation angehörig fühlten, erging die Aufforderung, „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden“.
Hier ging es wie 1871 und 1919 nicht um völkisch-ethnische Menschen, sondern um jene, die sich der deutschen Kulturnation zugehörig fühlten. Es ging nicht darum, all jene Gebiete zu „ethnisch reinen“, deutschen Landen zu erklären, in denen Mitglieder einer gedachten deutschen „Rasse“ lebten – wie es heute wieder und immer noch von Nationalisten nicht nur in Russland und Serbien für sich beansprucht wird. Es ging auch nicht darum, jenes „Deutschland über alles in der Welt“ das von Fallersleben gut 100 Jahre zuvor in patriotischem Überschwang in sein „Lied der Deutschen“ geschrieben hatte und das dennoch niemals herabwürdigend gegenüber anderen Ländern gemeint war, Realpolitik werden zu lassen. Es ging darum, den Nationalgedanken, der 1871 die deutschen Völker in einem Bundesstaat zusammengeführt hatte, aus dem völkisch-ethnischen Irrweg herauszuholen; die nur zwölf Jahre dauernden „Tausend Jahre“ der nationalistischen Sozialisten zu überwinden.
Hitlers Virus lebt
Doch das Virus des völkisch-ethnischen Irrwegs hatte sich festgesetzt in den Hirnen des kleinbürgerlichen Proletariats. Es bestimmte nun nicht mehr nur eine extreme „Rechte“ der Kleingeister, sondern zerfraß das Denken der nicht minder kleingeistigen politischen „Linken“, die unfähig geworden war, zwischen der Nation als großer Idee und dem Nationalismus als Irrweg zu unterscheiden. Jene, die heute krampfhaft alles daran setzen, zwischen dem auf derselben Ideologie basierenden Islam und dem Islamismus eine Unterscheidung zu konstruieren, liefen mit Hurra der unsinnigen Gleichsetzung von Nation und Nationalismus hinterher. Sie hatten die Volkspervertierung der nationalistischen Sozialisten zutiefst verinnerlicht – und speisen sich aus ihr bis heute.
In ihrer Unfähigkeit, den hohen geistigen und moralischen Anspruch einer deutschen Nation zu begreifen, unternahmen sie den ständigen Versuch der Überwindung des verinnerlichten Volksbegriffs des kleinbürgerlichen Proletariats, indem sie genau diesen zur einzig geltenden Definition des Volksbegriffes erklärten. Sie, die sich in ihrem Kleingeist die nationalsozialistische Doktrin zu eigen gemacht hatten, waren unfähig, zum eigentlichen Begriff der Nation zurück zu finden. Deshalb setzten sie alles daran, Volk gleich völkisch und Nation gleich nationalistisch zu setzen – und die sie beherrschenden Dämonen der Vergangenheit dadurch zu überwinden, indem sie Nation und Volk vernichteten.
Das Virus des völkisch-ethnischen Irrwegs griff bis tief selbst in konservative Kreise. Als der damalige Unions-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz im Jahr 2000 die Besinnung auf eine „freiheitliche deutsche Leitkultur“ einforderte und damit die Überwindung der völkisch-ethnischen Irrungen nicht nur der Deutschen meinte, fiel nicht nur die politische „Linke“ über ihn her. Sein in den Vorstellungen des Bürgertums des 19. Jahrhunderts fußender Anspruch wurde im Sinne der Prägung der politischen Volksüberwinder diffamiert – und er blieb es bis heute.