Wie bereits gesagt, kenne ich andere Grossstädte in Südamerika kaum, aber hier in Lima ist nichts "international", abgesehen von der Masse der venezolanischen Flüchtlinge. Selbst in den wenigen zentralen Distrikten, wo man "relativ" viele Ausländer sieht, also San Isidro, Miraflores und Surco, sind selbst in den Bankenvierteln prozentual kaum Ausländer zu sehen, europäisch aussehende Menschen, oder Leute, die sich "international" fühlen. Der Anteil der Menschen, deren Muttersprache weder Spanisch noch eine der Indianersprachen ist, liegt in Peru bei 0,2 %. Die meisten Ausländer kommen also aus anderen Ländern Südamerikas.
Solange sich die Lebensart der Masse der Chinesen, Inder und dem Rest der Welt nicht in Richtung westliche Lebensart bewegt, gibt es auch keinen "allgemeinen Prozess". Solche angeblichen Prozesse halluzinieren die westlichen Systemmedien herbei.
Dass Medien prinzipiell nur in Ländern ihre Wirkung entfalten können, wo die Menschen weniger Kontakt zur Wirklichkeit haben, weil sie dort weniger soziale Kontakte haben, habe ich auch schon bemerkt. Die ganzen Dinge wie Hollywood-Filme und Netflix haben hier bei den Menschen deswegen keinen sichtbaren Einfluss, weil sie kaum etwas wissen über die USA oder Europa. Wenn ich einmal Besonderheiten angesprochen habe nach einem Film, kam da immer nur ein nachdenkliches "Ach ja, ist mir so gar nicht aufgefallen".
Lebensart an sich wird auch vor allem durch die Wirtschaft bestimmt. Und die ist eben völlig anders als in Europa (die USA kenne ich kaum). Es gibt in Europa weitaus mehr Wohngebiete, wo ausser Wohnhäusern gar nichts ist, kein Laden, kein Handwerksbetrieb, kein Restaurant, gar nichts. Es sieht in weiten Teilen Europas so aus, als ob dort eine Neutronenbombe eingeschlagen hätte.
Hier hingegen gibt es vor allen in den äusseren Bezirken der Städte überall kleine Handwerksbetriebe, jede Menge Tante-Emma-Läden und Strassenverkäufer, ambulante Eisverkäufer usw.usf. Grundlage dessen sind eine völlig andere Gewerbeordnung und Steuergesetzgebung. Mindestlohn sind hier S/ 930 und als Selbständiger zahlt man keine Steuern, wenn die monatlichen Einkünfte unter S/ 1500 liegen. Man braucht dann auch keine Bücher zu führen, weder beim Einkauf noch beim Verkauf.
Es gibt dann auch noch sicher jede Menge "Informelle", informales auf Spanisch, aber die werden nicht besonders verfolgt, weil der Effekt ja praktisch der gleiche ist. Ob sie nun mit Steuernummer keine Steuern zahlen oder ohne. Desweiteren kann hier auch jeder ein Schild an seine Tür, sein Fenster oder an seine Hauswand machen, dass er PCs verkäuft oder repariert, Kuchen verkäuft oder Bier des nachts. Man kann auch mit einer Thermoskanne und Plastik- oder Styroporbechern auf der Strasse laufen und Kaffee für S/ 1 den Becher anbieten. Es gibt nur wenig, was verboten zu sein scheint. Ich habe z.B. noch niemanden Medikamente ausserhalb einer Apotheke verkaufen sehen, nirgendwo.
Und das führt eben dazu, dass nur wenige Leute ein festes Angestelltenverhältnis haben und damit feste Arbeitszeiten. Viele der Strassenhändlerinnen verschwanden vor Corona gegen 12 Uhr mittags, weil sie dann nach Hause gingen, kochten und die Kinder von der Schule kamen. Da jetzt der Schulunterricht nur virtuell weitergeführt wird, wird das jetzt eben anders organisiert.
Man kann aber feste Angestelltenverhältnisse nicht "anders organisieren". Wenn die Tochter keine Zeit hat, in die Firma zu gehen, kann sie nicht ihre Tante schicken oder ihren Bruder ...
Die ganzen freien Handwerksbetriebe können arbeiten, wann sie wollen, solange sie nicht nachts ständig und dauernd übermässig Krach machen. In solch einer flexiblen und informellen Arbeitswelt braucht man keine Kinderkrippe und kein Altersheim. Dort wird so gearbeitet und gelebt, wie man in Europa bis zum Anfang der Industrialisierung auch gelebt hat. Das hat jetzt nichts mit Rückständigkeit zu tun, sondern mit
Parallelwirtschaft. Man kann sein Auto in einer modernen Vertragswerkstatt reparieren lassen oder eben irgendwo auf dem Gehsteig. Man hat die
Freiheit dazu. Es gibt eben alles.
Das war in England schon teilweise genauso. Es gab natürlich dort neben den "normalen" Autowerkstätten auch die Möglichkeit, z.B. zu einem Autoteilehändler zu fahren und dort das Auto auf dessen Parkplatz unter freiem Himmel reparieren zu lassen. Dort kam dann ein freischaffender Mechaniker aus Pakistan oder den umliegenden Ländern, brachte sein eigenes Werkzeug mit und erneuerte den Zahnriemen oder tauschte die Lenksäule, also nicht nur simple Dinge. Dieser Mechaniker rechnete mit dem Besitzer des Autoteileladens ab und ich bezahlte dann diesen.
Diese Lebensart ist sehr verschieden von der in Zentraleuropa. Ebenso gehe ich auch äusserst ungern in einen Supermarkt, noch weniger, um dort Lebensmittel mit Konservierungsstoffen zu kaufen. Ich kaufe alles frei, nicht nur Obst und Gemüse, auch Fleisch, Fisch, Käse und Wurstwaren. Gestempelte Eier mit Haltbarkeitsdatum sind für mich eher eine Lachnummer.
Das ist die
Lebensart, die hier eben sehr unterschiedlich ist. Weiterhin das beinahe völlige Fehlen von Sozialleistungen. Es gibt kostenlose staatliche Schulen mit kostenlosen Schulbüchern, kostenlose medizinische Versorgung aber nur bei notwendigen Operationen und bei Notfällen, sofern man unterhalb der Armutsgrenze lebt. Dann gibt es noch Hilfen beim Hausbau wie "Techo propio" und so etwas in der Art und das war es auch schon. Rente gibt es immer nur für Angestellte, wie in den USA. Und für Staatsangestellte ganz besonders. Statt einer Arbeitslosenversicherung zahlt die Firma Beträge auf ein sog. CTS-Konto auf meinen Namen ein. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses informiert die Firma die Bank und dann erhalte ich Zugriff auf dieses Konto.
Aufgrund dieser unterschiedlichen Ökonomie gibt es auch eine unterschiedliche Mentalität und es werden auch ohne staatliche Hilfen Alte, Kranke, Soziopathen und alle anderen, die nicht arbeiten können oder wollen, in den Familien durchgeschleppt nach dem Motto: "Raum ist in der kleinsten Hütte". Und da sind überschüssige Kinder das kleinste Problem. Hier wird es auch gesellschaftlich geächtet, wenn jemand anderen Familienmitgliedern nicht hilft. Deswegen lebt auch kaum jemand hier alleine.
Zur weiteren Veranschaulichung einige Bilder. Ein Nachbar, etwa hundert Meter von mir, lackiert eben einfach auf der Strasse, die in seinem Bereich auch noch nicht einmal befestigt ist.
Und hier ein Beispiel für gewerbliche Schilder und Hinweise auch ohne ein Ladengeschäft. "Se vende" = "es verkäuft sich" bzw. "man verkauft", "es wird verkauft".