Dokumentarfilm stellt kritische Fragen zur Polizeiarbeit
Von Volker MilchWIESBADEN - Die Demonstrationen gegen den G-20-Gipfel in Hamburg liegen ein gutes Jahr zurück. Ein Jahr, dessen Verlauf bestätigt, dass es einige gute Gründe für Protest gegen die Mächtigen der Welt gibt: Statt internationaler Solidarität ist Re-Nationalisierung angesagt, die Klimapolitik muss schwere Rückschläge einstecken. „Kein Firlefanz“ war die Globalisierungskritik von rund 80000 Demonstranten, wie Heribert Prantl aus der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung in der neuen Dokumentation „Hamburger Gitter“ sagt.
Ins kollektive Bewusstsein eingegangen sind aber nicht die friedlichen, auch kreativen Proteste von Tausenden, sondern Randale, Plünderungen und ein beängstigendes Zerstörungswerk, das natürlich stärkere Bilder liefert als Menschen jeden Alters, die gegen Trump & Co. auf die Straße gegangen sind. Die ARD-Doku „Die schwarze Gewalt“ etwa liefert diese Bilder. Das Videokollektiv „leftvision“ stellt mit seiner Doku nun die Frage, ob der Hamburger „Ausnahmezustand der Startschuss für eine neue sicherheitspolitische Normalität“ war.
30 000 Demonstranten in München
Olaf Scholz hatte als Hamburgs Erster Bürgermeister die aus ganz Deutschland zusammengezogenen Einsatzkräfte buchstäblich heroisiert und die Bestnote vergeben: „Die haben alles richtig gemacht.“ Nicht nur die vehemente Polizeigewalt, die die neue Dokumentation zeigt, nährt Zweifel an dieser Behauptung. Auch jenseits von G20 bekommt das Bild von einer Exekutive, die in bürgerlichen Kreisen zumeist den Vertrauensvorschuss des „Schutzmanns“ genießt, Kratzer. Unlängst hat der in Bonn irrtümlich festgenommene und seinen Aussagen nach von Einsatzkräften verprügelte New Yorker Professor Yitzhak Melamed laut Spiegel online behauptet: „Ihr habt ein Problem mit massiver Polizeigewalt.“ Neue Polizeigesetze, die in Bayern schon bei „drohender Gefahr“ statt bei „konkreter Gefahr“ die Befugnisse erheblich erweitern, haben in München 30000 Demonstranten auf den Plan gerufen.
Auch vor dem Hintergrund solchen Geschehens ist die neue Dokumentation, die mit „Hamburger Gitter“ eine polizeiliche Absperrung zum Titel gewählt hat, ein unbedingt sehenswerter Beitrag nicht nur zur Bewertung der Ereignisse im Juli 2017, sondern zur rechtsstaatlichen Befindlichkeit überhaupt. Nicht zuletzt wird in der Doku, deren Untertitel den G20-Gipfel als „Schaufenster moderner Polizeiarbeit“ sieht, die Frage gestellt, was mit den Datensammlungen geschehen könnte, wenn die politische Lage instabil wird.
Zum Kreis der 17 Interviewpartner, die im Film zu Wort kommen, gehört auch der Polizeiwissenschaftler Rafael Behr, ein gebürtiger Mainzer, der selbst von 1975 bis 1990 Polizeibeamter in Frankfurt war und nun als Professor an der Akademie der Polizei Hamburg lehrt. Er sieht beim größten Polizeieinsatz der Nachkriegsgeschichte „Kollateralschäden“ im Demonstrationsrecht. Zum Beispiel wurde ein Zeltlager gegen einen Gerichtsbeschluss geräumt. Behr bemängelt fehlende Selbstkritik in der Polizeiarbeit. Bezweifelt werden auch Beweise für eine „hohe Gefahr“, die den Einsatz von schwerbewaffneten SEK-Kräften im Schanzenviertel rechtfertigen sollte. Eine Diskussion „auch juristischer oder moralischer Fehler“, wie sie etwa im Einsatz von Pfefferspray gegen eine junge Frau auf einen Wasserwerfer evident werden, finde „im öffentlichen Raum so nicht statt“. Die Frau sei „weggespritzt“ worden, obwohl von ihr keine Gefahr ausging. Eine mit „Fake News“ arbeitende Informationspolitik der Polizei kritisiert in der Doku auch der Berliner Kriminalhauptkommissar Oliver von Dobrowolski, der in Hamburg im Einsatz war. So sei verbreitet worden, dass Kollegen ihr Augenlicht verloren hätten.
In Hamburg waren über 600 rheinland-pfälzische und mehr als 1000 hessische Polizisten im Einsatz. Wenn man Andreas Grün, den hessischen Landesvorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei, nach seiner Einschätzung und möglicher polizeilicher Selbstkritik ein Jahr nach G20 fragt, sagt er dieser Zeitung: „Der größte Fehler war, dass es überhaupt in Hamburg stattgefunden hat.“ Die Stadt sei von ihrer Geografie her nicht geeignet gewesen. Grün hat die neue Dokumentation nicht gesehen, verweist beim Thema Polizeigewalt aber auf die Extremsituation von Kollegen im 20-stündigen Dauereinsatz und eine neue Qualität von Angriffen, „die sich gerade auch bei Demonstrationen massiv verändert haben“. Wie auch bei den Blockupy-Protesten in Frankfurt seien Gewalttäter „strukturiert und abgesprochen“ vorgegangen. Der Kritik an einer „kontinuierlichen Aufrüstung“ der Polilzei etwa mit Tasern, die in der Dokumentation formuliert wird, hält Andreas Grün entgegen, dass eine Folge der neuen Angriffs-Qualität der Ruf der Kollegen nach Distanzwaffen wie Gummigeschossen sei. Der Taser, der mit elektrischen Impulsen arbeitet, habe bei Demonstrationen nichts zu suchen. Pilotversuche in Rheinland-Pfalz hätten aber gezeigt, dass er in der sonstigen Polizeiarbeit eine „deeskalierende Wirkung“ habe. Zumeist habe die Androhung des Einsatzes dieser Waffe ausgereicht, um Konflikte beizulegen.
Beim Thema Polizeigesetz sieht Andreas Grün Hessen übrigens „besser aufgestellt“ und „ein klares Stückchen bürgerfreundlicher“ als Bayern, wo nun schon der „unbestimmte Rechtsbegriff“ einer „drohenden Gefahr“ ausreiche, um eine Inhaftierung bis zu drei Monaten oder länger zu rechtfertigen. Das findet Grün nicht angemessen und plädiert für eine Vereinheitlichung des Polizeirechts und für eine „zivile Bürgerpolizei“, die sich nicht zu weit vom Bürger entfernen sollte.
Für die kritischen Stimmen in der Dokumentation zeigt sich im G20-Einsatz eben diese Entfernung. Für den Polizeiwissenschaftler Rafael Behr ist die „Utopie“, dass „die Gesellschaft merkt, was der Staat sich herausnimmt an zunehmenden Einschränkungen.“ Und die Dystopie? „Die Gesellschaft merkt es eben nicht.“