Was Ullrich betrifft kann man nur zustimmen, wobei ich seine Karriere im Rückblick ganz anders betrachte.
Zunächst aber ein Wort zu der Entwicklung von Quintana. Es kommt im Radsport durchaus manchmal vor, daß ein Fahrer sein ganzes Potential schon in frühem Alter ausschöpfen kann. Als Beispiel wäre Damiano Cunego zu nennen, der bereits im Alter von 22 Jahren den Giro überraschend gewann und zeitnah auch bei der Tour das Weiße Trikot des besten Jungprofis. Damit hatte Cunego kurioserweise aber bereits sein Limit erreicht.
Bei ihm hätte ich damals erwartet und gehofft, daß er die Tour zukünftig mindestens ein Mal gewinnen wird, stattdessen wurde ich Zeuge, wie er jedes Jahr schlechter wurde. Er trat in den späten Jahren seiner Karriere nur noch als Spezialist für Klassiker in Erscheinung. An einem Toursieg durfte er nicht einmal schnuppern, obwohl er viele Jahre Kapitän bei Lampre war und die volle Unterstützung einer mittelstarken Mannschaft hatte. Woran es bei ihm lag, daß er später nicht einmal mehr auf's Klassement fahren konnte, erscheint mir immer noch rätselhaft.
Oder nehmen wir Riccardo Ricco, der in jungen Jahren am Berg ein ganzes Feld kaputt fahren konnte. Nach seinen Dopingskandalen konnte er nie wieder an solche Leistungen anknüpfen.
Quintana hat man dieses Jahr ein großes Angebot gemacht, nur 35 km Zeitfahren bei der ganzen Tour und genügend Bergetappen, um Verluste wettzumachen. Hätte sich der Kolumbianer nur auf diese Rundfahrt vorbereitet, wäre ein komplett anderes Resultat bei ihm zu erwarten gewesen.
Ich denke, da muss man seine Situation berücksichtigen, er hatte viel gutzumachen und wollte der Öffentlichkeit etwas beweisen. Wahrscheinlich ist er in dem Jahr so hungrig gewesen, wie seit seinem Toursieg nicht mehr. Er hatte wieder den Biß und die Zähigkeit, die ihn in seinen Glanzzeiten auszeichnete.Bei Ullrich bin ich mir sicher, was es war, dieses komplett unprofessionelle Telekomteam, was mit einem halben Sprinterzug und einem halben Zug fürs Gesamtklassement antritt. Es ist kein Zufall, dass Jan Ullrich just in dem Jahr Lance Armstrong einmal gefährlich werden konnte, als er wegen seines Rauswurfes mit seinem low-budget-Bianchi-Team angetreten ist, das vielleicht 1/10 des Etats und der finanziellen Reserven eines Team Telekom hatte, dafür aber wirklich zielgerichtet und intelligent zusammengestellt wurde.
Deine Bewertung zu den Leistungen von Telekom ist richtig, man sollte allerdings auch hervorheben, daß dieses Team über die Jahre eine ganze Reihe von Erfolgen sammelte und durch den gemischten Kader während der ganzen Radsportsaison auf jedem Terrain präsent war.
Gerade ausländische Stars sind leider regelmäßig unter den Erwartungen geblieben. Zu den von Dir schon angesprochenen Fahrern, könnte man noch Leute wie Óscar Sevilla und Eddy Mazzoleni anführen, die ebenfalls ihre größten Erfolge in anderen Teams feierten. Aus meiner Sicht stellte Telekom immer eine gute Gelegenheit dar, finanziell abzusahnen.
Fahrer wie Andreas Klöden und Michael Rogers haben ihre Karriere bei Telekom praktisch verschenkt. Beide wären prädestiniert gewesen für einen Toursieg, und in anderen Teams wären die beiden Männer bei der Tour unumstritten Kapitän gewesen. Bei Telekom mussten sie stattdessen für einen Jan Ullrich ackern, der regelmäßig mit nur ausreichender Fitness bei der Tour an den Start ging und erst einmal seine Topform während den Etappen aufbauen musste. Als er sie in der letzten Woche erreicht hatte, war das Gelbe Trikot meist schon nicht mehr in Reichweite.
Die Sache ist einfach die, Jan Ullrich war 1997 ähnlich jung wie Cunego schon auf dem Olymp angekommen, er hatte seine maximale Leistungsfähigkeit bereits ausgeschöpft, ab dem Zeitpunkt ging es nur noch darum, ein solches Niveau zu halten.
Und das entsprach nicht Ullrichs Naturell. Den Ehrgeiz, eine ganze Reihe von Toursiegen zu feiern, hatte er einfach nicht und ich finde das nicht tragisch.
Bis heute ist mir die Bildzeitung diesbezüglich peinlich in Erinnerung geblieben, man hat dort immer versucht, einen großen Druck auf Ullrich zu machen. Als seine Leistungen aus ihrer Sicht nicht ausreichten, haben sie ihn verhöhnt und ihm seine Vorliebe für Wein und Schokolade vorgehalten. Ich fand das immer unpassend. Ullrich hat nicht immer das Beste aus seinen Möglichkeiten gemacht, das ist wahr. Heute wäre man sicher glücklich, überhaupt einen deutschen Fahrer zu haben, der ein solches Potenzial von Natur aus mitbringt.
An den Schwächen eines Fahrers zu arbeiten, ist im Radsport nur begrenzt möglich. Basso ist in dem Fall die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Im Normalfall kann man aus einem fertig ausgebildeten Bergfahrer nicht einfach einen anderen Fahrertyp basteln. Gerade leichte Fahrer sind auch nicht geeignet für EZF, da sind physikalisch bereits Grenzen gesetzt. Aus einem Andy Schleck konnte auch Bjarne Riis keinen passablen Zeitfahrer machen, und das obwohl Schleck seine komplette Entwicklung als Profi bei CSC vollzog.Nur mal als Beispiel, was bei Bjarne Riis so alles möglich war. Ivan Basso war ein starker Bergfahrer, aber konnte gar nichts, was das Zeitfahren anging, er war 2004 3. geworden, aber in den Zeitfahren hatten Armstrong und Ullrich ihm 3 bzw. 2 abgenommen, bei 2 Zeitfahren. Es war klar, die Tour könnte der nie gewinnen mit seinen Zeitfahrqualitäten. In nur einem Jahr, nachdem Riis das mit ihm gezielt trainiert hat, wird er 2005 immerhin schon 2. bei der Tour, er verliert bei einem langen EZF nur noch ca. 1 Minuteauf Ullrich, ein paar Sekunden mehr Sekunden auf Armstrong, landet unter den ersten 10. Zeitfahrweltmeister wird er nicht mehr und geschlagen hätte er die beiden in seinem Leben bei einem EZF auch nicht, aber er war ein solider Zeitfahrer geworden. Nen Ullrich oder Armstrong konnten nicht mehr mit 6 Minuten Vorsprung vom Start weg fest rechnen, weil man ihn zwar im EZF sicherlich noch problemlos besiegen konnte, aber auch nicht mehr schlachten mit vielen Minutenrückständen. Wenn damals nicht der große Dopingskandal gekommen wäre, ich denke, er wäre durch sein hochprofessionelles Umfeld ein Toursieger geworden.
Quintana ist ein reiner Bergfahrer und die hatten es von jeher schwer bei der Tour zu gewinnen. Ich bezweifle auch aus den schon aufgeführten Gründen, daß man seine Schwäche beim Zeitfahren in den Griff bekommen könnte. Dafür fehlen ihm einfach einige Kilo an Körpergewicht, er ist für diese Disziplin ungeeignet.Und bei Quintana habe ich da irgendwie auch den Eindruck, sowas fehlt ihm. Es ist nicht gut, wenn man vorweg jede Tour fast schon abschreiben kann, die ein langes Zeitfahren im Plan hat. Schon bei den beiden kurzen 2016 hat er locker 3 Minuten auf Froome verloren. Ich sehe auch nicht, dass das halt ein bewusstes Opfer war, um seine Qualitäten am Berg auf ein ganz neues Niveau zu heben. Seit 2013 sehe ich irgendwie nicht den Quantensprung, den ich bei ihm erwartet habe, als er mit 23 Jahren so eine überragende Tour gefahren ist.[...]
Hier könnte man einen Tony Martin als Gegenbeispiel anführen, der die körperlichen Eigenschaften eines geborenen Zeitfahrers mitbringt, aber daher für die Berge immer ein paar Pfund zuviel mit sich rumschleppt. In jungen Jahren wäre es durchaus möglich gewesen, aus Tony Martin einen passablen Klassementfahrer zu machen, zu Beginn seiner Karriere hielt er ja auch im Gebirge viel besser mit. Er oder sein Umfeld entschied dann aber, sich komplett auf die Zeitfahren zu konzentrieren, und genau das brachte ihm, ich zitiere Christian Prudhomme, den Ruf als "bester Zeitfahrer der Welt" ein.