Nur sein Zimmergenosse ist so erfolgreich wie er
Barguil: "Ich lebe seit zwei Wochen meinen Traum"
Oben, auf dem Col d'Izoard in 2360 Metern Höhe, fielen sich Warren Barguil und Michael Matthews in die Arme, küssten sich auf die Wangen und beglückwünschten sich zu ihren unerwarteten Erfolgen. Barguil hat nach dem Gewinn der 18. Etappe von Briancon zum Gipfel der letzten Bergankunft das Trikot des Bergkönigs sicher und Matthews das Grüne.
Eine schier unglaubliche Geschichte. Nicht genug, dass beide für das deutsche Team Sunweb fahren, beide wohnen während des Rennens auch in einem Zimmer und jeder von ihnen gewann zwei Etappen dieser 104. Tour de France.
"Gestern haben wir festgestellt, nachdem Marcel Kittel (bis dahin Träger des Punktetrikots, d.Red.) leider verletzt aufgeben musste, dass wir nun beide Trikots im Zimmer haben, Michael aber noch einen Etappensieg mehr. Jetzt habe ich sogar gleichgezogen", freute sich Barguil.
"Ich lebe seit zwei Wochen meinen Traum", wiederholte er in der Mixed-Zone nach dem Rennen immer wieder, als könne er nicht glauben, was gerade mit ihm passiert.
Nach seinem Sturz bei der Romandie-Rundfahrt im April und dem dabei erlittenen Bruch eines Beckenknochens (der zum Glück nicht operiert werden musste), schien es unmöglich, dass er drei Monate später überhaupt bei der Tour würde starten können, ganz zu schweigen von dem Erfolg, den er einheimsen würde.
"Durch die Verletzungspause kam ich frisch zur Tour", erklärte der Franzose ein Erfolgsgeheimnis. Das andere ist sicher der fehlende Druck. Denn mit dem Start in Düsseldorf hatte Barguil sein größtes Ziel erreicht. Auch die Gesamtwertung war unter diesen Voraussetzungen kein Thema für ihn. So konnte er sich ganz auf Etappensiege konzentrieren. Barguil: "Die Rolle als Angreifer gefällt mir sehr gut. Ich musste nicht jeden Tag um die Gesamtwertung fahren und mir so auch zum Beispiel keine Sorgen um Windetappen machen. So vermied ich Stress und kann mittlerweile sogar trotzdem auf die Gesamtwertung fahren." Und siegen!
Mit beiden Fingern deutete Barguil beim Überqueren der Ziellinie auf dem Izoard gen Himmel. "Das war für meine Großeltern. Meine beiden Opas haben Radsport intensiv verfolgt und einer von ihnen hat mir viel beigebracht. Ich habe diese Geste bereits gemacht, als ich zwei Etappen bei der Vuelta gewann – und es heute bei der Tour zu machen war für mich sehr emotional. Ich werde meine Großeltern nie vergessen", erklärte der 25-Jährige aus dem nodwestfranzösischen Städtchen Hennebont bei Loriont.
Wenn er Paris erreicht, wird er erst der dritter Bretone nach Louison Bobet (1950) und Bernhard Hinault (1986) sein, der das Bergtrikot gewinnt. "Ich respktiere Bernard Hinault sehr. Er ist das Idol aller Bretonen", erklärte Barguil, der aber keine besondere Beziehung zu seinem Landsmann hat. "Aber jedes Mal, wenn die Chance besteht, rede ich mit ihm – wie bei Paris-Nizza dieses Jahr. Ich höre ihm gerne zu, er ist ein großer Champion!"
Vielleicht wird der junge Bretone ja auch ein Großer. Gestern war die Freude jedenfalls in seinem Zimmer im Residence Hotel Suit Home von Briancon groß. "Nun möchten wir die Trikots nach Paris bringen und jeden Moment genießen, da niemand weiß, was noch kommt. Ein Sturz kann an jeder Ecke passieren", sagte Barguil stellvertretend für seinen Team- und Zimmerkollegen.
Die beiden schreiben die unglaubliche Erfolgsgeschichte von Sunweb in diesem Jahr fort. Das deutsche Team gewann innerhalb von wenigen Wochen mit Tom Dumoulin das Rosa Trikot des Giro d'Italia und ist nun auf dem Weg, auch zwei Trikots der Tour de France zu holen. "Das Team ist wie eine Familie", begründete Barguil. "Wir stehen uns sehr nahe. Michael Matthews hat für mich gearbeitet und ich für ihn. Das Team durchlebt gerade ein großes Abenteuer mit dem Giro und der Tour – das ist außergewöhnlich."
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