Dies waren meistenteils Männer, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs dafür fochten, die Nachkriegsordnung diesseits des „Eisernen Vorhangs“ freiheitlich zu gestalten. Männer, die in den 1920er Jahren in die Sozialismus-Debatten eingebunden waren und sich gegen die roten und braunen Fluten der totalitären Ideologien stemmten. Auf jenem „Colloque“ schlug der deutsche Soziologe und Ökonom Alexander Rüstow vor, dass sich die wenigen noch vorhandenen Freiheitlichen – trotz aller untereinander bestehenden und teilweise erheblichen Differenzen – unter dem Markennamen „Neoliberalismus“ sammeln sollten, um den „Ideen der Freiheit“ wieder Gehör zu verschaffen. Diese ökonomischen Debatten der 1920er und 1930er Jahre lieferten den Humus, auf dem das wirtschaftspolitische Konzept der deutschen Neoliberalen, der späteren Ordoliberalen, wachsen sollte.
Alfred Müller-Armack schließlich prägte für dieses Konzept 1946 in seinem Aufsatz „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ den griffigen und genialen Slogan „soziale Marktwirtschaft“.
Den grundlegenden Ansatz der Konzeption „Neoliberalismus“ hatte Alexander Rüstow schon im September 1932 vor dem Verein für Socialpolitik in Dresden dargelegt. Man müsse, so Rüstow, durch ein Aufbrechen der Konzentration der Vermachtung und damit der Unterdrückung der Schwachen entgegenwirken; den Staat nicht zur Beute von Partikularinteressen werden zu lassen, die letztlich freiheitsfeindlich seien. Der Staat solle kein schwacher Staat sein, weil er dann „total“ werde, wenn er sich in Kleinigkeiten verzettele und alles und jedes Detail regeln wolle und somit zum „Beutestaat“ für starke Interessengruppen verkomme. Man müsse die Freiheit vor dem marktwirtschaftlichen Deismus schützen. Die Freiheit werde schon durch den Glauben an eine prästabilierte, göttliche Harmonie der Freiheit gefährdet. Deshalb benötige die Aufrechterhaltung der Freiheit ein ganzheitliches, soziologisch eingebettetes Regelsystem. Nur dann wäre der Satz von Adam Smith „Durch Recht und Staat blühen all die verschiedenen Tätigkeiten“ zu realisieren. Die mangelhafte Wehrhaftigkeit des praktizierten alten Liberalismus habe dies ab dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr gewährleistet, und der Staat sei zur Beute von Partikularinteressen verkommen. Alexander Rüstow sagte 1932 in Dresden: „Der neue Liberalismus, der heute vertretbar ist und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessen, da, wo er hingehört.“
Das fundamentale Rechtsstaatsverständnis Franz Böhms und die ordnungspolitischen Vorstellungen Walter Euckens mündeten in Überlegungen, die im Sinne des ursprünglichen Liberalismus Wirtschaftsmacht zu verhindern und Staatsmacht zu begrenzen suchen. Es ergibt sich in Kombination mit Vorgaben aus der philosophischen Ethik das ordnungspolitische Grundgerüst einer freiheitlichen Wirtschafts-, Gesellschafts- und Staatsordnung, die Vermachtungen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft verhindern soll:
Erstens: Das Prinzip der offenen Märkte: Freie Eintritts- und Austrittsmöglichkeiten für jedermann – Pluralismus auf politischen und ökonomischen Märkten! Die Politik hat die Märkte (auch die politischen) nicht abzuschotten, den freien Handel nicht einzuschränken und Interessengruppen keinerlei partikulare Privilegien einzuräumen.
Zweitens: Das Recht auf und der Schutz von Privateigentum, das unter stetiger Kontrolle des Wettbewerbs steht. Eigentumsbildung auf breiter Basis als eine Grundvoraussetzung der Freiheit. Menschen, die ihr Eigentum pflegen, vermehren und hegen, sind fähig zur Verwirklichung eines Freiheitsethos. Sie sind in der Lage, dann auch einer anmaßenden Obrigkeit in selbstbewusster Unabhängigkeit und Freiheit entgegenzutreten.
Drittens: Der Staat hält via Zentralbank das Monopol in Währungs- und Geldfragen. Die Zentralbank hat für stabiles Geld zu sorgen, da Deflation und Inflation gleichermaßen ungerecht und schädlich sind.
Viertens: Es gilt das Prinzip der individuellen Vertragsfreiheit. Diese ist sicherzustellen und unabdingbar für einen funktionierenden Wettbewerb. Das heißt auch, dass die Entscheidungen freiwillig und dezentral getroffen werden. Über die Realisierung dieser Prinzipien hat die staatliche Judikative als neutraler Schiedsrichter zu wachen.
Fünftens: Das Haftungsprinzip. Jeder Marktakteur haftet für die Konsequenzen, die aus seinen Entscheidungen und seinen Handlungen folgen. Scheitert eine Unternehmung, dann haftet der Unternehmer als Eigentums-Unternehmer mit seinem gesamten Vermögen. Staatliche Hilfen, die das Scheitern verhindern sollen, sind unzulässig und nicht zu gewähren.
Sechstens: Die staatliche Wirtschaftspolitik soll Konstanz aufweisen, dadurch berechenbar sein und im Dienste der Eckpfeiler der Ordnungspolitik stehen, um so eine Wettbewerbsordnung sicherzustellen, die für „Entmachtung durch Wettbewerb“ sorgt.
Dieses Konzept, das einen starken und über den Partikularinteressen stehenden Minimalstaat verlangt, wurde von Beginn an von vielen Seiten kritisiert. Nicht nur von den Kommunisten, der sozialistischen Sozialdemokratie und aus den Reihen der Konservativen. Auch aus den liberalen Kreisen gab es Vorbehalte gegen einen solchen „autoritären Liberalismus“, der mit einer „autoritären Staatskonzeption“ unterlegt ist. Karl Raimund Popper zum Beispiel merkte an – mit Blick auf die weiter oben erwähnten Inkonsistenzen –, dass innerhalb solcher Systeme die Wissenschaftler die gleiche nicht zu bewältigende Aufgabe haben würden wie Platons Philosophenkönige. Oder anders ausgedrückt: Das Instrument „Ordnungspolitik“ müsste – so interpretiere ich Poppers Kritik –, wenn der Ansatz konsequent zu Ende gedacht wird, in den Händen eines Gremiums von Experten sein, das über der Regierung steht und die Macht haben muss, einen anderen Kurs als die Regierung zu fahren. Die Frage ist dann, ob Experten so etwas leisten können. Fällt dies nicht gerade unter das, was Friedrich August von Hayek unter „Anmaßung von Wissen“ kritisiert? Und würden demokratisch gewählte Regierungspolitiker, die noch dazu die Allmacht des Parlaments hinter sich wissen, bereit sein, dieses mächtige Instrument in die Hand eines unabhängigen Gremiums zu legen?