Die Zeit / China / 02.12.2010 / von Martin Herzog
Gottes zweiter Sohn
Es war einer der blutigsten Bürgerkriege der Weltgeschichte: Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte die christliche Taiping-Bewegung, die Macht in China an sich zu reißen.
Christen sind heute in China eine bestenfalls geduldete Minderheit. Mitte des 19. Jahrhunderts allerdings standen sie kurz davor, die Macht in dem Riesenreich zu übernehmen. Doch die große christlich-chinesische Revolution, die mit den Fieberträumen eines Provinzgelehrten begann, endete in einem Desaster von unvorstellbaren Ausmaßen – in Aufstand und Krieg.
Am Ende zählte man 20 Millionen Tote, vielleicht waren es auch 30 oder sogar 50 Millionen, genau weiß das niemand. Sicher ist nur: Es war eine der größten Erhebungen, einer der blutigsten Bürgerkriege der Weltgeschichte.
Der Taiping-Aufstand. Um ein Haar hätte er die morsche Mandschu-Dynastie hinweggefegt. Es war ein Aufstand des Glaubens, ein später Kreuzzug, ein Heiliger Krieg. Getragen wurde er von einer bizarren Gruppe christlich inspirierter Fundamentalisten unter ihrem Anführer Hong Xiuquan (Hong Tschiu-tschuan), die von 1850 an gegen die "dämonischen Tataren" kämpfte und dabei erstaunlich erfolgreich war. Zeitweise besetzten die Taiping ein Drittel des chinesischen Territoriums.
Ihr Ziel war die Errichtung des "Taiping Tianguo", eines christlichen "Himmelreichs des vollkommenen Friedens". Ihr religiöses Rüstzeug erhielten sie durch protestantische Missionare, angeführt von einem deutschen Erweckungsprediger.
Die frommen Revolutionäre tauchten zu einer Zeit auf, da China bereits unter heftigem Druck stand, von innen wie von außen. Es krachte im Gebälk des Riesenreiches. Traditionell begriff es sich als Zentrum des Universums, die Welt draußen bestand nur aus tributpflichtigen Vasallen. Das ungebrochene Selbstverständnis der Herrscher auf dem Drachenthron indes stand Mitte des 19. Jahrhunderts in schrillem Gegensatz zu den wahren Machtverhältnissen im ostasiatischen Raum.
In zwei Opiumkriegen zwang Großbritannien Peking seinen Willen auf. Durch den massenhaften Tee- und Seidenimport aus China war die britische Handelsbilanz in Schieflage geraten. Um das Defizit auszugleichen, nötigten die Engländer China, die Droge aus ihrer Kolonie Indien einzuführen und das kurz zuvor erlassene Opiumverbot aufzuheben. Zudem verleibte sich das Empire den Hafen Hongkong ein; China musste sich der Freihandelspolitik der Kolonialmächte öffnen.
Währenddessen ließen bürokratische Misswirtschaft und schlechte Ernten bei gleichzeitiger Bevölkerungsexplosion die eigene Wirtschaft fast zusammenbrechen. Chinas verkrusteter Verwaltungsapparat wurde mit der Situation nicht fertig. Vor allem deshalb, weil am Ort nichts entschieden werden durfte. Nachrichten nach und aus Peking brauchten Wochen, manchmal Monate, dennoch weigerte man sich dort, das Straßennetz des Reiches zu modernisieren oder gar Eisenbahnen zu bauen. Zudem blieben die Verkehrswege unsicher, überall lauerten Banditen.
Die Obrigkeit war ungeliebt. Die mandschurischen Herrscher der Qing-Dynastie wurden von vielen als Besatzungsmacht empfunden. Sie gehörten nicht zu den einheimischen Han-Chinesen, sondern stammten von einem Volk aus dem Norden Chinas her, der Mandschurei. Zwar war es ihnen gelungen, sich durch ein ausgeklügeltes Herrschaftssystem seit zwei Jahrhunderten an der Macht zu halten, doch die Unzufriedenheit wuchs.
Für zusätzliche Unruhe sorgten die zahllosen Prediger der Erweckungsbewegung, die in dieser Zeit durch die Provinzen Chinas zogen. Im Kielwasser westlicher Händler strömten sie ins Reich der Mitte und verkündigten das unmittelbar bevorstehende Ende der Welt. Vor der Wiederkunft des Herrn wollten sie noch möglichst viele Seelen retten.
Die Kolonialmächte der Welt hatten großes Interesse an China
Meist handelte es sich um englische und amerikanische Evangelikale. Einer der Eifrigsten unter ihnen aber war ein Deutscher in britischen Diensten, der Freikirchler Karl Gützlaff, geboren 1803 im pommerschen Pyritz.
Er sprach ein exzellentes Chinesisch in etlichen lokalen Dialekten, übersetzte die Bibel und bildete Chinesen im Eiltempo zu Missionaren aus; 1844 gründete er dafür in Hongkong eigens eine Schule. Er schickte die jungen Christen mit seinen Schriften in die chinesischen Provinzen – heimlich, denn der Kaiserhof ließ jeden verfolgen, der "fremde Bücher verbreitet, die geeignet sind, die Menschen mit Lügen zu verführen".
Unterstützung erhielt Gützlaff aus der Heimat. Das Interesse an China war groß in dieser Zeit, bei allen Kolonialmächten und bei denen, die es gern sein wollten. In Deutschland reichten die Sympathien für Gützlaff hinauf bis zum preußischen Hof. Es bildeten sich über 100 Vereine, die Gützlaffs Missionsarbeit förderten, auf dass sich das Wort Gottes in dem fernen Land verbreite.
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