Der Ort wurde am 30. April 1945 von den Sowjets eingenommen, und schon an diesem Tag wählten 21 Menschen den Freitod. Doch das war nur der Auftakt.
Abbild der kleinstädtischen Gesellschaft
Denn in der Nacht zum 1. Mai plünderten Rotarmisten das mit Flüchtlingen überfüllte Demmin. Sie nahmen sich mit Gewalt Frauen, raubten, was sie tragen konnten, betranken sich. Im Suff steckten enthemmte Soldaten Häuser an, und der Ort verwandelte sich binnen Stunden in eine rauchende Ruinenlandschaft.
Diese Gewalterfahrung war es, so vermutet Huber überzeugend, die zum massenhaften Suizid führte. das Gefühl, total ausgeliefert zu sein. Der Verlust all dessen, was den Bewohnern wichtig gewesen war. „Scharenweise strömten Frauen, Männer und Kinder in den Tod“, schreibt er: „Die Selbstmörder von Demmin waren ein Querschnitt und Abbild der kleinstädtischen deutschen Gesellschaft.“
Am 3. Mai hatten sich die Flammen gelegt, und es wurden massenhaft Leichen aus den Gewässern rund um Demmin geborgen. Drei Tage später begann die Tochter des Friedhofsgärtners, eine Liste zu führen über die Toten. Sie nutzte dafür ein Wareneingangsbuch. Auf 28 Seiten dieses Totenbuchs notierte sie 612 Todesfälle.
Andere Listen aus Demmin kamen auf mehr als 700 Suizide, Zeitzeugen erinnerten sich an Zahlen von 1200 bis hin zu „mehreren Tausend“. Es dürften tatsächlich wohl 900 bis 1000 Selbstmorde gewesen sein – ungefähr jeder zwanzigste Mensch, der sich Ende April 1945 in dem Städtchen aufgehalten hatte.
Doch so vergleichsweise genaue Zahlen gibt es nur aus Demmin und einer Handvoll weiterer Gemeinde – den Gesamtumfang der Selbstmordepidemie in Deutschland kann man nicht einmal schätzen. Florian Huber verzichtet darauf, per Hochrechnung einen Wert zu ermitteln.