Zitat von
Coriolanus
Was heißt denn "modern"? Wenn ich das Klangbild einer Vertonung von Johann Sebastian Bach mit dem technisch sterilen Computersound von zeitgenössischer Musik vergleiche, empfinde ich es so, daß die heutige Musik äußerst altmodisch, um nicht zu sagen altbacken klingt.
Bei der Kunst geht es für den Betrachter, Leser oder Hörer vor allem darum, sich auf sie einzulassen, und genau daran gebricht es den Menschen schon seit langer Zeit. Die aus Amerika stammende Unterhaltungsindustrie füttert die "hungrigen Sinne mit einer Massennahrung" (Stefan Zweig), sie ist bequem und leicht verständlich. Daran haben sich die allermeisten Leute gewöhnt, und anstrengende Kunstmusik ist ihnen zuwider.
Als ich mir Bachs Chaconne zum ersten Mal anhörte, habe ich danach schnell wieder alles vergessen. Ich lag einige Tage später im Bett und stellte beim Einschlafen voller Verblüffung fest, daß ich mir keinen einzigen Ton des Stücks gemerkt hatte. Eine ungewöhnliche und peinliche Erfahrung, da ich Musik von klein auf immer gut im Gedächtnis behalte. Mittlerweile bin ich immerhin soweit, daß ich die ersten Takte dieses Meisterwerks im Kopf habe.
Über die bürgerliche Gesellschaft meinte der Musiktheoretiker Heinz-Klaus Metzger vor fast 40 Jahren schon: "Sie ist längst nicht mehr revolutionär und rutscht weltgeschichtlich eine schiefe Ebene hinunter, und zwar mit beängstigend zunehmendem Intelligenzverlust. Es gibt heute kein wirklich adäquates Publikum mehr für ernste Musik."
Für ernste Musik gilt dasselbe wie für ernste Kunst im Allgemeinen. Bevor man irgendetwas bewertet oder gar beurteilt, sollte man sich zunächst einmal mit der Sache beschäftigt haben. Das ist wohl das Mindeste, was man verlangen kann. In diesem Strang haben viele Schreiber ein Urteil über "moderne Kunst" abgegeben, bei denen klar ersichtlich ist, daß sie an Kunst sowieso nicht interessiert sind. Das sagt viel über unsere Zeit aus, denn hier schreiben größtenteils keine Asozialen.
Ich kann mir kaum ein Urteil über die heutige Szene der Kunstschaffenden erlauben, weiß aber zumindest, daß die deutschen Orchester, die nur durch Subventionen überlebensfähig sind, noch immer zur internationalen Spitze gehören.
Wo Kunst zur Staatspropaganda mutiert, und das ist nicht selten im Bereich der Pop- und Rockmusik der Fall, bleibt einem nur das Ignorieren.
"Moderne Kunst" aber grundsätzlich abzulehnen, nur weil sie ein bestimmtes Zeitkriterium nicht erfüllt, ist so ziemlich das Dümmste was man tun kann. So gehört für mich die Sinfonie der Klagelieder von Henryk Mikołaj Górecki zu den eindrucksvollsten Werken der Musikgeschichte. Die stammt aus dem Jahre 1976 und ist aus musikalischer Sicht der Gegenentwurf zur Lach- und Spaßgesellschaft des 21. Jahrhunderts.