Neuerdings sieht man auf den Rasenstreifen an den Pariser Ausfallstrassen Zelte. Es sind Flüchtlinge, die hier campieren, unterwegs von irgendwoher, unterwegs irgendwohin; vielleicht sind sie gestrandet, vielleicht warten sie auf Arbeit oder auf eine Reisegelegenheit. Wer weiss, ob sie morgen schon nach irgendwo zurückgeschafft werden. Um in Wochen- oder Monatsfrist wieder an derselben Stelle anzulangen.
Anzeige
[Links nur für registrierte Nutzer]
Immer schon gab es im Bois de Boulogne einen Campingplatz, und wer Glück hat und an der Wasserfront einen Platz ergattert, sieht auf die träge fliessende und still stinkende Seine hinunter. Ein kurzes Stück flussaufwärts donnert es von der sechsspurig befahrenen Brücke hinüber nach Suresnes, am gegenüberliegenden Ufer dröhnt der Verkehr über den Quai Gallieni. Viel billiger übernachtet man nirgends in Paris.
Die Unterschiede zwischen den Zelten an den Ausfallstrassen und auf dem Camping im Bois de Boulogne sind graduell. Laut ist es da wie dort, und wenn Unrat herumliegt rund um die Zelte der Flüchtlinge, dann hängt das vor allem mit der fehlenden Infrastruktur zusammen. Wo soll man sich waschen, wohin soll man mit dem Müll? Und dann werfen die Autofahrer auch noch ihre Zigarettenkippen oder Kaffeebecher achtlos zum Fenster hinaus und womöglich gleich vor den Zelteingang.
Das Dasein in der SchwebeWenn sich von aussen gesehen die Zelte wenig oder kaum unterscheiden, so tun es ihre Bewohner umso schärfer. Die einen haben gültige Reisedokumente, die zum Aufenthalt berechtigen, die anderen meistens weder das eine noch das andere. Die Touristen verbringen ihre Tage mit Sightseeing und Lagerfeuerromantik. Die Migranten sind stets auf der Hut vor den Behörden und darauf bedacht, schleunigst wegzukommen.
Dennoch sind sich beide überraschenderweise sehr viel ähnlicher, als es einem Beobachter und gerade ihnen selber scheinen will. Beide sind sie auf der Flucht, auch wenn der Tourist nur gerade seinem Alltag entflohen ist, der Migrant indessen nicht weniger als seine Haut retten will. Hier wie dort hängt das Dasein für eine Weile in der Schwebe und in den Schrecken oder Freuden des Vakuums: Ob in den Ferien oder auf der Flucht, der Mensch fällt aus seiner Zeit heraus. Nur ist im einen Fall die Wahrscheinlichkeit, dass er wieder hineinfindet (hineinfinden muss zum eigenen Verdruss), um einiges verlässlicher als im anderen.
Dieses Innehalten des Daseins schafft keinen Ort zum dauerhaften Aufenthalt, es ist noch nicht einmal ein Provisorium. Man lässt es sich aber in den Ferien gefallen, weil es Anspruchslosigkeit und Abenteuer suggeriert. Doch der Tourist weiss: Es ist ein Spiel. Zu Hause wartet ein Bett. Dem Flüchtling indes ist es bitterer Ernst. Der Nicht-Ort und das Leben in der Schwebe werden für lange sein Schicksal bleiben. Die Rückkehr schliesst er aus.
Das Unterwegssein wird in einem Ausmass zu unserer zweiten Natur, dass wir den Ausnahmezustand des Reisens schon gar nicht mehr als solchen wahrnehmen.
Erkennt der Tourist, dass ihn mit dem Flüchtling – jenseits existenzieller Unterschiede – einiges verbindet? Gewiss nicht, und das liegt nicht nur daran, dass ihre Zelte nicht auf Sichtweite zueinander stehen. Vielmehr müsste jeder im anderen die Karikatur seiner selbst erblicken. Der Flüchtling könnte sich, wenn ihm denn überhaupt danach noch zumute wäre, über den Ferienreisenden in seinem Zelt nur wundern. Und der Tourist? Er würde sich indigniert abwenden. Der Anblick könnte ihm etwas peinlich sein, da er sich als Obdachlosigkeitsdarsteller entlarvt vorkommen muss.
Und wenn der Reisende komfortabel im Hotel logiert, so wird er den Flüchtling umso weniger als sein Alter Ego anschauen, auch wenn sein Hotelzimmer einen exemplarischen Nicht-Ort vorstellt und sein Alltag darin suspendiert ist zwischen Ankunft und Rückkehr. Nie wird er im Flüchtlingsheim, wo das Leben auf andere Weise stockt und den Atem anhält, das etwas trostlosere Abbild seines Hotels erkennen. Und nie wird er die Mobilität des Migranten mit seiner eigenen Reiselust vergleichen wollen und können.
Wie verwunderlich dieser blinde Fleck ist, der sich im Mangel an Empathie manifestiert, zeigt sich schon an einer einzigen Zahl: Mehr als eine Milliarde Menschen sind im vergangenen Jahr über die dreissig grössten europäischen Flughäfen gereist. Und wenn man sich jetzt noch die Massen jener hinzudenkt, die mit anderen – öffentlichen oder privaten – Verkehrsmitteln auf Reisen gehen, dann erst macht man sich
[Links nur für registrierte Nutzer]
Als Folge dieser anschwellenden Ströme verbringen immer mehr Menschen immer längere Zeit an Nicht-Orten: von den Abfertigungshallen und Bahnhöfen über die Autobahnraststätten bis schliesslich zu den Hotelbetten. Das Unterwegssein wird in einem Ausmass zu unserer zweiten Natur, dass wir den Ausnahmezustand des Reisens schon gar nicht mehr als solchen wahrnehmen – und erst recht nicht verstehen, dass unsere Condition humaine immer schon fundamental davon bestimmt ist.
In meiner Jugend sah ich gelegentlich an grossen Kreuzungen in den Städten Wegweiser mit der Aufschrift «Transit». Heute fallen sie mir nicht mehr auf. Damals aber verstand ich nicht, was es damit auf sich hatte. Ein Wegweiser ohne Ortsangabe schien mir sinnlos. Und warum sollte einer in die Stadt hineinfahren, wenn er nur am anderen Ende wieder herauskommen will? Erst heute, da man die Schilder kaum mehr sieht, erschliesst sich mir der maliziöse Hintersinn.
Es fehlt uns eine anschauliche Philosophie des Transitorischen, die uns eine Ahnung davon geben könnte, warum die Reisewut so unbezähmbar machtvoll über uns herrscht.
Wir sind alle immer nur auf Durchfahrt. Nicht die Destination zählt, aber das Wegkommen. Und vielleicht ist noch nicht einmal dies das Wichtigste, sondern allein die Tatsache des Unterwegsseins. «Transit» war darum Verheissung, und es war Fluch zugleich: Die Ankunft war darin nicht vorgesehen, sondern immer nur das Fort- und Weiterkommen. Es hält sich also in unserem Reisefieber ein Atavismus verborgen, den wir nur darum nicht mehr als solchen ansehen, weil heutzutage das Reisen so gefahrlos und in einem existenziellen Sinn wohlfeil geworden ist.
Wir setzen unsere Haut nur noch metaphorisch aufs Spiel. Und kaum erkennen wir – oder nurmehr als Nostalgie – die Sehnsucht, die uns schon als Kinder vom Wegkommen träumen liess: Es ist das Verlangen nach dem besseren und schöneren Leben, das im gediegenen Hotel mit Frühstücksbuffet, Swimmingpool, Meerblick oder Ähnlichem sein letztlich doch etwas traurig ernüchterndes Surrogat gefunden hat.
Utopisches PotenzialEs mangelt uns nicht an Reisebeschreibungen von den frühesten Dichtern bis zu den heutigen. Umso mehr aber fehlt uns eine anschauliche Philosophie des Transitorischen, die uns eine Ahnung davon geben könnte,
[Links nur für registrierte Nutzer] dass wir noch das Verweilen an den ödesten Nicht-Orten als Wohltat empfinden. Wir würden verstehen lernen, dass am Grunde dieser Rastlosigkeit der alte Fluchtinstinkt fortwirkt, der uns immer wieder gebieterisch einzuflüstern scheint: nur weg von hier, auf zu neuen, anderen, besseren Ufern.
Und begreift man nun, was den Luxusreisenden mit dem Backpacker im Bois de Boulogne und beide wiederum mit den am Strassenrand campierenden Migranten verbindet? Gegen jeden äusseren Anschein unterscheidet sich das, was die einen aus Lust und zum Vergnügen tun, in nichts Wesentlichem von dem, was die anderen aus schierer Not wagen. Vor dem inneren Auge sehen sie das Schild «Transit», das ihnen Glück verheisst und dem sie in dem alten, seit Kindheitstagen der Menschheit unbezwingbaren Wunsch gehorchen, aus Mühsal und Alltag, aus Bedrängnis und Not auszubrechen, wegzugehen, das andere zu suchen. Nur dies unterscheidet die Reisenden von den Flüchtlingen zuletzt: Jene kehren nach abgemessener Zeit zur Ausnüchterung zurück; diese stranden vielleicht irgendwo und geben die Hoffnung auch dann nicht auf.
Ein Nicht-Ort sei das Gegenteil der Utopie, schrieb einmal der französische Ethnologe Marc Augé. Das mag auf eine Abfertigungshalle oder eine Autobahnraststätte zutreffen. Ein Flüchtlingsheim ist zwar der Grenzbegriff eines Nicht-Ortes, mehr Nicht an einem Ort geht nicht. Aber es ist von allen Unorten gewiss jener, an dem noch die stärksten utopischen Kräfte zu walten vermögen. Was Reisen im Innersten und zuletzt heisst: Von den Migranten könnte es mancher Tourist lernen. Mag sein, dass er danach weniger reisen würde – aber gewiss anders.