Bewußter Gegenfortschritt
Es ist nicht nur ein Rückschritt; es ist Gegenfortschritt und zwar bewußter Gegenfortschritt.
Wir leben seit 30 Jahren in der Krise. Und diese Krise, die neoliberale Konterrevolution, ist menschengemacht. Sie ist bzw. war künstlich, denn offenbar scheint die Krise seit Anfang des 21. Jahrhunderts ihren Herren, den Gebietern des Krisenrings, aus den Händen zu gleiten. Das läßt sich indirekt an den Konflikten verschiedener Teile der globalen Elite, an den Aktivitäten ihrer geschlossenen Organisationen und an den Äußerungen hoher Amtsträger erkennen. Es genügt, sich daran zu erinnern, was Christine Lagarde auf dem Treffen von IWF und Weltbank im Oktober in Tokio sagte und was die Kernaussage des Managements von Morgan Stanley in einem Bericht vom Juni letzten Jahres gewesen ist.
Das maßgebliche Dokument der neoliberalen Gegenrevolution war der Bericht „Krise der Demokratie“, der 1975 auf Betreiben der Trilateralen Kommission von Samuel P. Huntington, Brian J. Crozier und Joji Watanuki geschrieben wurde. Das Dokument ist sehr aufschlußreich. Die Autoren schrieben, daß das einzige Heilmittel für die Übel der Demokratie nicht ein Mehr an Demokratie, sondern die Schwächung der Demokratie wäre. In dem Bericht heißt es, daß ein demokratisches politisches System gewöhnlich nur wirksam funktionieren könne, wenn einige Personen und Gruppen ein gewisses Maß an Apathie und Nichtmitwirkung zeigten. Damit waren die Mittelklasse und die Oberschicht der Arbeiterklasse gemeint.
Die demokratische Belebung, so hieß es in dem Bericht, sei eine allgemeine Herausforderung für die bestehenden öffentlichen und privaten Obrigkeitsstrukturen, und die Hauptschlußfolgerung bestand darin, daß der Einfluß der Öffentlichkeit verringert werden müsse. Dieses Dokument war somit in Wirklichkeit eine Reaktion auf den Aufstieg der Mittelschicht und der Arbeiterklasse aufgrund der Industrialisierung in den 30 Nachkriegsjahren.
Entindustrialisierung, Entrationalisierung und Entvölkerung
Die Lösung war ganz einfach: Deindustrialisierung – die Deindustrialisierung des nordamerikanischen Kerngebiets und eine Offensive gegen die Mittelschicht und die Arbeiterklasse. Ausdruck davon waren Thatcherismus und Reaganomics.
Die Deindustrialisierung des Westens, die in den 1980er Jahren begann, war ideologisch seit langer Zeit – seit den 1860er bis 1880er Jahren in Großbritannien – in Vorbereitung. In den 1950er und 1960er Jahren kam noch die Umweltbewegung dazu. Die Umweltbewegung der 60er Jahre wurde von der Rockefeller Foundation organisiert und ebnete der späteren Deindustrialisierung den Weg.
Die gleiche Rolle kam der Jugendkultur und verschiedenen Minderheitsbewegungen und natürlich der Entrationalisierung des Denkens und Verhaltens zu. In den 80er Jahren erlebten wir den Aufstieg irrationaler Kulte, die Verschlechterung der Breitenbildung, und an die Stelle von Science Fiction trat reine Phantasie. Die Harry-Potter-Serie ist ein sehr bezeichnendes Beispiel dafür, wie die Zukunft aussehen soll, ein Abbild der Realität, in der es keine Demokratie mehr, sondern nur noch eine Hierarchie gibt, in der Macht nicht auf rationalen Entscheidungen, sondern auf Magie beruht.
Die neoliberale Gegenrevolution, mit der die Einkommen zugunsten vorherrschender Gruppierungen und zu ungunsten der Mittelschicht und der Arbeiterklasse umverteilt wurden, war Teil eines viel größeren geo-historischen Projekts oder Komplotts, wenn man so will: Des Projekts, die Geschichte anzuhalten. Die Umverteilung der Einkommen und die Entdemokratisierung der Gesellschaft verlangten eine zivilisatorische Kehrtwende, die ich die drei E’s nennen will: Entindustrialisierung, Entrationalisierung und Entvölkerung.
Letztere spielt nicht nur vom wirtschaftlichen Standpunkt oder vom Standpunkt der Ressourcen eine wichtige Rolle. Es ist viel leichter, 2 Mrd. Menschen zu kontrollieren, anstatt 7 oder 8 Mrd. Das Entvölkerungsprojekt wird von den gleichen Strukturen finanziert, die bereits die Umweltbewegung u.a. finanziert haben.
Die neoliberale Gegenrevolution war eine eigenständige Krise, aber sie war als gelenkte Krise gedacht. Doch Anfang des 21. Jahrhunderts scheint der Prozeß, wie ich schon sagte, außer Kontrolle geraten zu sein. Hegel pflegte solche Situationen als Perfidie der Geschichte zu bezeichnen.
Es gibt somit eine doppelte Krise: Eine menschengemachte und geplante, und dann eine neue, chaotische Krise.