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Der Massenmensch ist der Mensch, der ohne Ziel lebt und im Winde treibt. Darum baut er nichts auf, obgleich seine Möglichkeiten und Kräfte ungeheuer sind.
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Charakteristisch für den gegenwärtigen Augenblick ist jedoch,
daß die gewöhnliche Seele sich über ihre Gewöhnlichkeit klar ist, aber die Unverfrorenheit besitzt, für das Recht der Gewöhnlichkeit einzutreten und es überall einzusetzen.
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Für mich ist Adel gleichbedeutend mit gespanntem Leben, Leben, das immer in Bereitschaft ist, sich selbst zu übertreffen, von dem, was es erreicht hat, fortzuschreiten zu dem, was es sich als Pflicht und Forderung vorsetzt. So stellt sich edles Leben dem gemeinen oder tatlosen gegenüber, das sich bewegungslos in sich selbst verschließt und zu dauerndem In-sich-Beharren verurteilt ist, wenn eine äußere Kraft es nicht zwingt, aus sich herauszugehen.
Dies der Grund, warum wir die Menschenart, mit der wir es hier zu tun haben. „Masse“ nennen; nicht weil sie zahlreich, sondern weil sie träge ist.
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Bedeutet es nicht einen gewaltigen Fortschritt, wenn die Massen „Ideen“ haben, das heißt gebildet sind? Ganz und gar nicht. Die „Ideen“ dieses durchschnittlichen Menschen sind keine echten Ideen, noch ist ihr Besitz Bildung.
Die Idee ist ein Schach, das man der Wahrheit bietet. Wer Ideen haben will, muss zuerst die Wahrheit wollen und sich die Spielregeln aneignen, die sie auferlegt. Es geht nicht an,von Ideen oder Meinungen zu reden, wenn man keine Instanz anerkennt, welche über sie zu Gericht sitzt, keine Normen, auf welche man sich in der Diskussion berufen kann. Diese Normen sind die Grundlagen der Kultur.
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Wo dies alles fehlt, gibt es keine Kultur; es herrscht im genauesten Sinn des Wortes Barbarei. Und Barbarei ist es, geben wir uns keinen Täuschungen hin, die dank der zunehmenden Aufsässigkeit der Massen in Europa anzubrechen droht. Der Reisende, der in ein barbarisches Land kommt, weiß, dass dort keine Bindungen gelten, auf die er sich verlassen kann. Barbarische Normen im eigentlichen Verstand gibt es nicht. Barbarei ist die Abwesenheit von Normen und Beru-fungsinstanzen. Der Grad der Kultur bemisst sich nach der Genauigkeit der Normen. Wo sie gering ist, ordnen sie das Leben nur im Groben; wo sie groß ist, durchdringen sie bis ins einzelne die Ausübung aller Lebensfunktionen.
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Unter den Marken des Syndikalismus und Faschismus erscheint zum erstenmal in Europa ein Menschentypus, der darauf verzichtet, Gründe anzugeben und Recht zu haben, der sich schlechtweg entschlossen zeigt, seine Meinung durchzusetzen. Das ist neu: das Recht darauf, nicht recht zu haben, Grundlosigkeit als Grund.
Die neue Einstellung der Masse manifestiert sich nach meiner Meinung am sinnfälligsten in ihrem Anspruch, die Gesellschaft zu führen, ohne dazu fähig zu sein.
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Zivilisation ist in erster Linie Wille zur Gemeinschaft. Man ist so unzivilisiert und barbarisch, wie man rücksichtslos gegen seinen Nächsten ist. Die Barbarei ist die Neigung zur Auflösung der Gesellschaft. Darum waren alle barbarischen Epochen Zeiten der menschlichen Vereinzelung, eines Gewimmels kleinster, getrennter und feindlicher Gruppen.
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Die politische Form, die den höchsten Willen zur Gemeinschaft verkörpert hat, ist die liberale Demokratie. Sie zeigt die Bereitschaft zur Anerkennung des Mitmenschen in vollster Entfaltung und ist das Urbild der indirekten Aktion. Der Liberalismus ist das politische Rechteprinzip, nach welchem die öffentliche Gewalt, obgleich sie allmächtig ist, sich selbst begrenzt und, sei es auch auf ihre eigenen Kosten, in dem Staat den sie beherrscht eine Stelle für jene frei lässt, die anders denken und fühlen als sie, das heißt als die Starken, als die Majorität. Der Liberalismus – wir dürfen das heute nicht vergessen – ist die äußerste Großmut; er ist das Recht, das die Majorität der Minorität einräumt, und darum die edelsteLosung, die auf dem Planeten erklungen ist.
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Das allgemeine Stimmrecht gab der Masse nicht das Recht zu entscheiden, sondern die Entscheidung der einen oder anderen Elite gutzuheißen.
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Die europäische Zivilisation – ich wiederhole es immer wieder – hat zwangsläufig zum Aufstand der Massen geführt. Der Aufstand der Massen hat eine außerordentlich erfreuliche Seite; er ist identisch mit der beispiellosen Steigerung, die das Leben in unseren Tagen erfahren hat. Aber seine Kehrseite ist beängstigend;
sie zeigt, dass dieselbe Erscheinung identisch ist mit der sittlichen Entartung der Menschheit.
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