Deutsche als Opfer?
Streit um Vertriebenenzentrum
Der Plan des Bundes der Vertriebenen (BdV) in Deutschland ein "Zentrum gegen Vertreibungen" zu errichten, löste nicht nur hierzulande eine Debatte aus. Besonders im Nachbarland Polen stößt er auf heftige Proteste.
von Susanne Gelhard, 18.11.2003
Breslau 1945: Hitlers Gauleitung hat die schlesische Hauptstadt zur Festung erklärt. Die Parole lautet: Durchhalten bis zum letzten Mann. Nach 80 Tagen Belagerung durch die sowjetische Armee fällt die Stadt. Im Juli 1945 übernimmt Polen die Kontrolle und nur wenig später beginnt die gezielte Vertreibung der Deutschen: Die Einwohner Breslaus sind auf der Flucht. In die Stadt kommen polnische Flüchtlinge, selbst heimatlos, von der sowjetischen Armee aus dem Osten Polens vertrieben. 600.000 Einwohner werden nahezu völlig ausgetauscht. Keine andere Stadt in Europa hat ein solches Schicksal.
Streit gefährdet Beziehungen
Die deutsche Vergangenheit von Wroclaw, wie Breslau heute heißt, war im kommunistischen Polen tabu. Erst seit einigen Jahren gewinnt die Stadt allmählich ihr Gedächtnis wieder, arbeitet an den Beziehungen zu Deutschland. Doch jetzt bringt der Streit um das Zentrum gegen Vertreibungen alles in Gefahr, meint Rudolf Tauer. Er ist einer der wenigen Dutzend Breslauer der Vorkriegsgeneration, die hier nach dem Krieg unter Mühen ausgeharrt haben.
Rudolf Tauer
Rudolf Tauer: "Ich verstehe auch die deutschen Bürger, dass sie in Gedanken sehr oft in der Heimat sind. Das ist für mich verständlich. Aber warum noch öffentlich - durch Politiker - warum das gute Verhältnis, das jetzt doch zwischen der polnischen und deutschen Regierung entstanden ist, auf einmal zerreißen, verändern und wieder bei den Menschen Hass hervorrufen?"
"Ich hege keine Groll"
Polemik auf polnischer Seite: Erika Steinbach, Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen, wird als Nazi-Wallküre dargestellt, der Bundeskanzler als williges Vehikel. So kommentiert die Zeitschrift "Wprost", eines der einflussreichsten politischen Magazine in Polen, die Pläne der BdV-Chefin.
Umstrittenes Titelbild der Zeitschrift "Wprost"
Erika Steinbach: "Ich hege auch trotz dieser, zum Teil ja für mich diffamierenden Diskussion, keinen Groll, weil ich glaube, dass einfach zu viele Emotionen darin stecken, die nicht gegen mich als Person gerichtet sind, sondern wo eine eigene Unsicherheit daraus spricht."
Piotr Gabryel
Standort Berlin
Piotr Gabryel, stellvertretender Chefredakteur der Zeitschrift "Wprost": "Die Idee von Erika Steinbach akzeptieren wir Polen nicht. Wenn die Deutschen ein eigenes Zentrum bauen, werden sie ihr Vertriebenenschicksal in den Vordergrund stellen. Dabei sind sie für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich, der doch der Grund für ihre eigene Vertreibung war. Unser Titelblatt hat sehr schockierend gezeigt, dass wir mit dieser Revision der Geschichte durch einen Teil der Deutschen nicht einverstanden sind."
Seit drei Jahren betreibt Erika Steinbach mit einer Stiftung die Gründung eines Zentrums gegen Vertreibungen. Die Tragödie der deutschen Heimatvertriebenen soll im Vordergrund stehen. Geplanter Standort ist Berlin.
Erika Steinbach
Auf deutschem Territorium
Erika Steinbach: "Diese Stiftung ist eine Stiftung, die in Deutschland zu Hause ist, also wollen wir auch zunächst einmal nur auf deutschen Territorium unsere Arbeit verrichten. Zudem ist Berlin ein gut erreichbarer Ort. Von Berlin gingen die Schrecknisse des Nationalsozialismus, der Zweite Weltkrieg, aus und nach Berlin strömte dann das dramatische Ergebnis auch in Form von Flüchtlingswellen wieder zurück."
Ganz anderer Meinung ist der Schriftsteller Günter Grass. Selbst Vertriebener aus Danzig, fordert er ein europäisches Zentrum mit Beteiligung aller betroffenen Staaten. Den Standort Berlin lehnt er ab.
"Dann kommt Frau Steinbach, mit einem gewissen Ehrgeiz betreibt sie das Ganze und bringt das mit einer Vehemenz vor, vor der man sich fürchtet. Das ist, dass sie von vornherein bei dem Standort Berlin bleibt, und wie sie von vornherein dabei bleibt, dass die Flüchtlings- und die Vertriebenenverbände eine führende Rolle dabei spielen sollen. Das ist beunruhigend, nach den Erfahrungen, die man in Polen mit den Vertriebenenverbänden gemacht hat", sagt Grass.
Wolfgang Thierse
Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident: "Jetzt ein Zentrum in Berlin bauen zu wollen, wird auf dramatischen, emotionalen Widerstand von polnischer Seite stoßen und unser Verhältnis wirklich stören. Jetzt sind es atmosphärische Irritationen. Aber jetzt gegen den Widerstand von polnischer Seite dieses Projekt durchziehen zu wollen, dass würde dauerhaften Schaden anrichten, glaube ich."
Alternative Breslau
Breslau, die Stadt der Vertriebenen. Nach Meinung vieler Polen ist sie eine klare Alternative zu Berlin. Deutsche und Polen, Böhmen und Habsburger regierten hier: Eine Stadt mit europäischer Geschichte. Der richtige Standort für ein europäisches Zentrum gegen Vertreibung, meinen Breslauer Historiker, wie Professor Adolf Juzwenko. Er ist nach dem Krieg aus dem Osten Polens als Vertriebener nach Breslau gekommen. Er hütet die Bibliothek der polnischen Vertriebenen aus Lemberg, das heute zur Ukraine gehört.
Wroclaw, das heutige Breslau
Berichte von Vergewaltigung, Mord und Gewalt durch die sowjetische Armee, erzwungene Ansiedlung in fremden Städten: Oft gleichen sich die Schicksale polnischer und deutscher Vertriebener, meint er. Er wünscht sich eine gemeinsame europäische Aufarbeitung des Themas Vertreibung - aber nicht unter Regie von Frau Steinbach und nicht in Berlin.
Adolf Juzwenko
Zentrum mit deutschem Geld
Adolf Juzwenko, Historiker: "Das wird ein Zentrum mit deutschem Geld. Und so wird auch die Forschungsrichtung diktiert: Das Hauptinteresse gilt dem Unglück der deutschen Vertriebenen, kaum ein Wort über unser Schicksal oder darüber, wer denn das ganze Unglück auslöste. Bei der jetzigen Diskussion habe ich den Eindruck, dass nicht mehr die Aufarbeitung, sondern die Aufrechnung interessiert."
Wir fragen bei Erika Steinbach nach: "Wenn die polnische Seite nicht mitmacht, wie reagieren Sie dann?"
Erika Steinbach: "Ganz gelassen"
Frontal21: "Und praktisch?"
Erika Steinbach: "Wir arbeiten ganz sorgfältig weiter."
Susanne Gelhard: "Ohne Polen?"
Erika Steinbach: "Ohne Polen!"
Zentrum ohne Polen?
Polen - das Land, das Hitler überfiel, um so genannten Lebensraum für das deutsche Volk zu schaffen. Sein "Generalplan Ost" sah die Vertreibung von 30 Millionen Menschen vor. Polen - das Land, in dem Auschwitz liegt. Allein dort wurden nach Schätzungen 1,5 Million Juden und Polen in Gaskammern ermordet. Polen - das Land mit der Hauptstadt Warschau, bei Kriegsende von den Deutschen fast völlig zerstört. Nie mehr sollte hier - so die Nazipropaganda - Leben entstehen. Ein Fünftel der polnischen Bevölkerung kam im Krieg ums Leben. Ein Zentrum gegen Vertreibungen - ohne Polen?
Günter Grass
Günter Grass: "Also davor kann ich nur warnen. Das würde das deutsch-polnische Verhältnis zurückwerfen und würde also auch den Eintritt Polens in die europäische Gemeinschaft erschweren, weil sich dann die Widerstände in Polen verdoppeln würden."
Zentrum für alle
Wenn die Diskussion so weiter geht, ist es schlecht bestellt um ein einiges Europa, meint auch Rudolf Tauer. Er wünscht sich ein Zentrum, das besonders die Ursachen der Vertreibung mit einschließt - ein Zentrum für alle: "Für alle, die im Krieg 1939-1945 Verluste erlitten haben. Ganz gleich welcher Art. Durch Vertreibung, durch Ausweisung, durch Tod ihrer eigenen Angehörigen. Für die sollte irgend etwas anderes geschaffen werden. Ein Andenken für sämtliche, nicht nur für einen Teil der Leute, die gelitten haben."
Berlin oder Breslau? Ein deutsches Zentrum gegen Vertreibungen oder ein gemeinsames europäisches - mit Polen? Das sind Fragen zum Umgang mit europäischen Nachbarn, Fragen, die längst beantwortet schienen.