Zitat von
Bernhard44
Die Rezeption des Kemalismus im Westen: ein Hindernis für
den Dialog zwischen Okzident und Orient
Der "Kemalismus", er hat sich in diesen sieben Jahrzehnten
längst "verselbständigt", er ist in die Kategorie des Glaubens entrückt,
dem kritischen Denken entwichen. Die einzelnen Elemente des
Kemalismus sind über die jahrzehntelange positive Rezeption fast schon
sakrosankt geworden. Dies bedeutet, daß der Denkprozeß, dem jede
Ideologie ausgesetzt ist, nämlich ihre Überprüfung auf der Grundlage der
durch sie (mit-)beeinflußten oder zumindest umschriebenen
gesellschaftlichen und politischen Realität, nicht oder allenfalls in
Ansätzen und unsystematisch stattfindet. Damit wird ein wesentlicher
Teil der orientalischen Wirklichkeit tabuisiert. Tabus des Denkens und
Handelns sind nicht a priori negativ; das durch die positive Rezeption des
Kemalismus entstandene Tabu gegenüber der "westlichen" Nahostpolitik,
gegenüber der "westlichen" Nahosthaltung wirft jedoch viele kritische
Fragen auf.
Tabuisiert hat sich indessen auch die "türkische" Gesellschaft. Der
"Kemalismus" als Grundlage des Verfassungslebens und Ideologie des
eigentlichen türkischen Machtzentrums, der Armee, ist in der Türkei nach
wie vor offiziell "gültig" und gilt als Eckstein, nach dem sich Gesellschaft
und Parteien offiziell auszurichten haben. Unverkennbar ist aber auch,
daß diese offizielle Ideologie das reale gesellschaftliche und politische
Leben der gegenwärtigen Türkei schon seit vielen Jahren nur noch
unvollkommen umschreibt und offenkundig nur durch permanente
Staatsstreiche der türkischen Armee (1960, 1971, 1980, 1992 ff.)
"gehalten" werden kann. Das "Erbe Kemal Atatürks", auf dessen immer
wieder mündlich tradiertes "Testament" sich das Offizierskorps der Türkei
nach wie vor legitimatorisch beruft, hat eine Tabuzone geschaffen. Diese
in Frage zu stellen, ist nicht nur physisch bedrohlich; sieben Jahrzehnte
politisch gesetzter Tabuisierung wirken geistig-gesellschaftlich nach.
Und schließlich sind beide Tabus untrennbar miteinander verbunden. Die
Tabuisierung des Kemalismus in der Türkei legitimiert sich auch aus der positiven Rezeption im Westen; die westliche Tabuzone kemalistische
Türkei legitimiert sich ihrerseits immer wieder erneut aus der Kontinuität
kemalistischer Ausrichtung des türkischen Machtzentrums Armee...............................
Abschied vom Kemalismus muß auch der Osten in seiner Gesamtheit
nehmen. Der Kemalismus trennt den Orient voneinander, so wie er auch
die Türkei geteilt und nicht geeinigt hat. Der Kemalismus wirkt so à la
longue nicht entwicklungsfördernd, sondern entwicklungshemmend und
parzellierend.
Der Dialog zwischen Okzident und Orient setzt den Abschied vom
Kemalismus voraus.
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