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Herr Professor Grulich, vor neunzig Jahren waren in der Türkei dreißig Prozent der Einwohner Christen - heute sind es nur noch 0,2 Prozent. Wie kam das?
Das kam durch politische Ereignisse, zunächst durch den Ersten Weltkrieg, als die Osmanische Türkei den ersten Holocaust des 20. Jahrhunderts begann, und zwar 1915 mit der „Endlösung“ der Armenierfrage. Nach dem Ersten Weltkrieg kam hinzu, dass durch den griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausch, der in Wahrheit ein christlich-muslimischer Austausch gewesen ist, alle Christen Kleinasien verlassen mussten.
Es hat also im letzten Jahrhundert nirgendwo einen so großen Rückgang des Christentums gegeben, wie in der Türkei - nicht einmal in der Sowjetunion.
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Wir haben gesagt, dass bis ins letzte Jahrhundert dreißig Prozent der Einwohner der Türkei Christen waren. Das lässt darauf schließen, dass das Zusammenleben mit den Muslimen nicht nur negativ gewesen sein kann.
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Wie viele Armenier sind denn ums Leben gekommen?
Es hat damals über zwei Millionen Armenier auf dem Gebiet der heutigen Türkei gegeben. Heute leben höchstens hunderttausend in der Türkei. Wenn man davon ausgeht, dass viele flüchten konnten, muss man trotzdem die Zahl der getöteten Armenier mit über einer Million ansetzen.
Steckten hinter dem Massaker eher religiöse oder politische Gründe?
Es waren vielleicht nicht nur politische, sondern sogar rassistische Gründe. Die damaligen drei jungtürkischen Führer der Türkei, das Triumvirat von Enver Pascha, Cemal Pascha und Talaat Pascha, wollten das „Türkentum“ stärken – und da waren die Armenier in Anatolien und im ganzen Reich für sie ein Dorn im rassistischen Auge. Dass dieser Rassismus im Vordergrund stand, sehen wir auch daran, dass in den Anweisungen zur Deportation und Vernichtung oft von der „verfluchten Rasse“ gesprochen wurde, die man auszurotten habe; und daran, dass man auch andere nichttürkische Gruppierungen, vor allem die christlichen Aramäer und Assyrer einem Holocaust ausgeliefert hat: Sie hatten über eine halbe Million Opfer von 1915 bis 1918, von denen heute kaum noch jemand spricht – außer die Nachkommen der Opfer in Deutschland, die ja gute Kontakte zu „Kirche in Not“ haben. Bedauerlich ist, dass die damalige türkische Führung die muslimische Karte ausgespielt hat und es gelungen ist, nichttürkische muslimische Gruppen auf ihre Seite zu bekommen, leider auch die Kurden und vor allem die Tscherkessen. Gerade diese muslimischen nichttürkischen Minderheiten haben sich bei den Massakern hervorgetan.
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Der Völkermord an den Armeniern war nicht das einzige Drama, das sich in der Türkei im vergangenen Jahrhundert abgespielt hat. Das nächste war dann die Vertreibung der griechischen Bevölkerung.
Es hat bereits während des Ersten Weltkriegs Übergriffe auf die griechische Bevölkerung des westlichen Kleinasiens gegeben, aber es gab auch Griechen, die in der osmanischen Armee gekämpft haben.
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Eine andere christliche Minderheit hat ja länger überlebt, im Osten der Türkei. Das waren syrische Christen im Raum von Tur Abdin. Aber die sind ja auch sehr dezimiert worden im Laufe der Jahrzehnte.
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