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Statt mit den Wirtschaftserfolgen zu prahlen, lenkt der neue Premier Wen Jiabao den Blick auf die sozialen Probleme

Von Georg Blume für ZEIT.de

China hat eine neue Regierung. Erst jetzt ist das spürbar. Dazu bedurfte es der ersten Regierungserklärung des vor einem Jahr neu ernannten Premierministers Wen Jiabaos, der am Freitag in Peking den jährlich tagenden Nationalen Volkskongress eröffnete.

Vor 3000 Delegierten hielt Wen eine knapp zweistündige Rede, wie sie in den Annalen der Kommunistischen Partei Chinas bisher nicht verzeichnet wurde. Er sprach von der „Unzufriedenheit der Massen“, vom „zu großen Einkommensgefälle in der Gesellschaft“, von den „schwierigen Aufgaben der Beschäftigung und Sozialabsicherung“, von der „ungleichmäßigen Entwicklung der einzelnen Regionen“, von der „wachsenden Belastung der Ressourcen und der Umwelt“. Kurz: Er sprach von den Folgen des Kapitalismus in China.

Kein führender chinesischer Kommunist vor ihm hat das so deutlich getan. Bis zu Wens unmittelbarem Vorgänger Zhu Rongji glaubten die KP-Spitzen noch, im Sozialismus zu leben und waren schon deshalb unfähig, eine Kapitalismuskritik im eigenen Land zu führen. Zhu dagegen hatte den Systemwechsel in der Volksrepublik als einer der ersten erkannt und gefördert. So wurde er zum Apologeten der Wachstumsgesellschaft. Sein Nachfolger Wen aber ging nun einen entscheidenden Schritt weiter. Er beschrieb die Wirklichkeit, wie sie sich den allermeisten Chinesen nach zwanzig Jahren marktorientierter Reformpolitik darstellt. In den Städten sind unzählige Millionen arbeitslos, auf dem Land hunderte von Millionen nicht mehr ihres Schicksals gewiss. Zwar sind die meisten Chinesen stolz auf Hochhäuser, Autobahnen und die vielen anderen Zeichen sichtbaren Fortschritts. Doch für viele springt außer Straßenarbeit oder Dienstmädchendasein nicht viel heraus. Und etliche Bauern, die immer noch die Hälfte der Bevölkerung stellen, empfinden sich als Reformverlierer. Da kommt Wens Warnung, dass die Bevölkerungsmehrheit trotz aller Wirtschaftserfolge unzufrieden sei, nicht zu früh.

Den Kommunisten in Peking stellen sich damit ganz neue Aufgaben: Sie müssen lernen, den Kapitalismus zu bändigen, statt ihn nur als Erretter aus dem Chaos der Planwirtschaft anzubeten. Wen Jiabao scheint das verstanden zu haben. Seine Regierungserklärung enthält keine prahlerische Auflistung der Wirtschaftsergebnisse, wie das bisher üblich war. Stattdessen eine Vielzahl neuer Sozialmaßnahmen.