MOSKAU, 07. November (Wladimir Gall, Veteran des Großen Vaterländischen Krieges, für RIA Novosti).
Ein junger Germanist, der eben erst das Diplom der berühmten IFLI (Hochschule für Philosophie, Literatur und Geschichte) erhalten hatte, meldete sich Wladimir Gall, ohne erst die Einberufung abzuwarten, freiwillig zur Einsatzarmee und legte den Weg von Moskau bis nach Berlin zurück. Bei Kriegsende vollbrachte Hauptmann Gall eine Heldentat, für die er des Ordens des Vaterländischen Krieges der 2. Stufe gewürdigt wurde. Das Kommando entsandte ihn, zusammen mit Major W. Grischin, als Parlamentär. Beide begaben sich in die Festung Spandau bei Berlin, in der sich die Hitlerleute verschanzt hatten, und forderten die Garnison auf, sich kampflos zu ergeben. Wladimir Gall, der perfekt deutsch sprach, konnte sie überreden, die Waffen zu strecken. Dadurch wurde ein Blutvergießen verhindert und das Leben der Zivilbevölkerung, die in der Festung Zuflucht gefunden hatte, gerettet.
Doch bevor man Berlin erreichte, galt es, die eigene Hauptstadt zu verteidigen.
Gleich von Kriegsbeginn an unternahmen Flugzeuge der faschistischen Luftwaffe mit Anbruch der Dunkelheit tägliche Bombenangriffe auf Moskau. Gegen Abend, in Erwartung eines abermaligen Luftangriffs, bezogen wir die Feuerstellung an den Fla-Geschützen. Um 21.00 heulten gewöhnlich die Sirenen, und eine oder zwei Minuten später konnte man schon die heranfliegenden Junkers hören. Wir eröffneten das Feuer. Doch gelang es einigen Flugzeugen, den dichten Feuervorhang zu durchbrechen, in den Luftraum der Hauptstadt einzudringen und ihre todbringende Last abzuwerfen.
Als sich im Herbst die Front den Mauern von Moskau genähert hatte, kamen deutsche Bomber, von Messerschmitt- und Heinkel-Jägern begleitet, auch schon tagsüber angeflogen. Wir lösten einander ab, um rund um die Uhr unseren Dienst in den Feuerstellungen zu verrichten. Unser Regiment war in den Tschernyschewskije-Kasernen, in der Nähe des Danilowskaja-Platzes, untergebracht. Alle unseren Leute, die nicht gerade Dienst hatten, versammelten sich morgens, gleich nach dem Wecken, im Lenin-Zimmer und erstarrten vor einem Rundfunkempfänger, um die Kriegsberichte des Sowjetischen Informationsbüros (Sowinformbüro) zu hören.
Am 17. Oktober 1941 wurde der Bericht wie auch sonst vom besten Ansager des Unions-Rundfunks, Juri Lewitan, verlesen. Seine Stimme verriet mehr Erregung als sonst. "In der Nacht zum 17. Oktober hat sich die Lage an der Westfront, Moskauer Richtung, verschlechtert", sagte er. Wir waren konsterniert: Erstmalig in der ganzen Zeit seit Kriegsbeginn hieß es in einem Bericht im Klartext: "Die Lage hat sich verschlechtert."
An jenem Tag schickte mich der Batteriechef in dienstlichen Angelegenheiten in die Stadt. Ich sah das Moskau der Kriegszeit. Ungewohnt menschenleere Straßen, alle Fenster zum Schutz vor Detonationswellen mit Papierstreifen kreuzweise verklebt. An den Fassaden der Häuser hingen Plakate mit der Darstellung eines Soldaten in Halbpelz und Pelzmütze. Darunter der Aufruf, ein Zitat aus Lermontows Gedicht "Borodino": "Soldaten, liegt nicht Moskau hinter uns?" Das Gebäude der staatlichen Fabrik Gosnak, in der auch Geldscheine gedruckt wurden, war mit Verzerrungsanstrich unkenntlich gemacht, aus seinem Schlot erhoben sich dichte schwarze Rauchschwaden. Überall flogen Fetzen von Banknoten herum und sanken kreisend auf die Straße und den Gehsteig herab. Die Metro stand still. Später sollte ich erfahren, dass gerade an jenem Tag, dem 17. Oktober, in Moskau Panik ausgebrochen war. Aber nachher wiederholte sie sich nie mehr.
Am Abend des 19. Oktober erhielten wir den Befehl, auf dem Kasernenhof anzutreten. Im Westen lag der Himmel in einem blassen rötlichen Schein, von dort kam ein dumpfes Grollen. Uns wurde ein Befehl des Staatlichen Verteidigungskomitees verlesen, worin es hieß, dass über Moskau der Belagerungszustand verhängt werde. Die Führung der Verteidigung der Hauptstadt im entfernten Vorfeld wurde dem Oberbefehlshaber der Westfront, Armeegeneral Schukow, und die an den näheren Zugängen dem Chef der Truppen der Moskauer Luftverteidigung, Oberstleutnant Artemjew, auferlegt. Aus dem Befehl folgte, dass der Feind vor den Mauern von Moskau stand. Das gab einem einen Stich ins Herz.
Dann kamen die schwersten Tage. Die Panzerkolonnen von Guderian strebten, gleich einer eisernen Lawine, Moskau zu, und schienen durch nichts aufzuhalten zu sein. Doch glich die Verteidigung der Hauptstadt einer Sprungfeder, die, wenn von außen zusammengedrückt, nur noch an Widerstandskraft gewann.
Am 6. November 1941, am Vortag des 24. Jahrestages der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, befanden wir uns in der Kaserne, im Zimmer für die Ausbildungsvorbereitung. Vor dem Krieg hatte im Bolschoi-Theater um diese Zeit sonst eine feierliche Sitzung stattgefunden, aber in der akuten Kriegssituation wurde das natürlich von niemandem erwartet. Plötzlich kam der Politleiter der Batterie, Babenkow, in den Raum gelaufen: "Genossen, alles schnell ins Leninzimmer!" Wir stürmten dorthin und hörten aus dem Empfänger die wohlbekannte Stimme mit einem leichten georgischen Akzent. Stalin sprach ruhig, langsam, bedächtig, als wählte er zuerst jedes Wort aus. Sowohl der Inhalt seiner Rede als auch die Tatsache selbst, dass er in der Stunde der überaus großen Gefahr Moskau nicht verlassen hatte und sogar die feierliche Sitzung durchführte, flößte Optimismus und Sicherheit ein.
Die feierliche Sitzung verlief diesmal nicht im Bolschoi, sondern in der Metrostation "Majakowskaja", sie gehörte zu den tiefsten in Moskau und war somit vor feindlichen Bomben bestens geschützt. Aber nicht darum ging es! Die Hauptsache war, dass diese wichtige Veranstaltung trotz allem doch stattfand! Ebenso wie am nächsten Morgen auf dem Roten Platz auch eine Militärparade stattfand. Die Teilnehmer der Parade marschierten am Lenin-Mausoleum in voller Ausrüstung vorbei und gingen sofort an die Front, die ja ganz in der Nähe verlief.
Leider nahm ich an dieser Parade nicht teil, weil unsere Einheit in der Feuerstellung Dienst hatte. Ich weiß noch, dass dieser Novembertag dicht bewölkt war, und die Faschisten konnten keine Bombenangriffe unternehmen.
Die Offensive der deutschen Panzerarmee entwickelte sich immer intensiver, und es wurde die Aufstellung von Panzerjägerregimentern bekannt gegeben. Ihnen wurden auch die Flakartilleristen angegliedert. Einer von ihnen war unser Kamerad Jefim Dyskin, ein 18-jähriger Junge, schüchtern und ängstlich. Am 17. November, als in einem ungleichen Kampf bei Wolokolamsk schon die ganze Batterie gefallen war, kämpfte der verblutende Jefim doch weiter und schaffte es, acht Panzer abzuschießen. Am selben Tag begingen bei der Station Dubossekowo (unweit von Wolokolamsk) auch die Soldaten von Generalmajor Panfilow ihre unsterbliche Großtat. Sie starben den Heldentod, versperrten aber dem Feind den Weg nach Moskau. Den Soldaten von Panfilow wie auch meinem Regimentskameraden Jefim Dyskin wurde der Titel Held der Sowjetunion verliehen.
Die faschistischen Generale meldeten Hitler bereits, sie sähen mit ihren Feldstechern die Häuser von Moskau, und er freute sich im Voraus über den Sieg. Unterdessen rollten aus dem Osten Tag und Nacht Militärzüge mit frischen, ausgezeichnet ausgestatteten sibirischen und fernöstlichen Divisionen nach Moskau. Die militärische Führung der Roten Armee konzentrierte mächtige strategische Reserven, während die Armeen von Schukow, Rokossowski und Konew den Gegner durch blutige Kämpfe zermürbten.
Am 6. Dezember 1941 schnellte die bis zum Äußersten zusammengedrückte Sprungfeder der Moskauer Verteidigung auf und schlug mit fürchterlicher Kraft auf den Feind. Jeden Tag berichteten Rundfunk und Zeitungen über die Befreiung von immer weiteren Ortschaften, Städten und Dörfern der Gebiete Moskau, Tula und Kaluga. Bei unserem Dienst an den Fla-Geschützen bemerkten wir, dass die faschistischen Flugzeuge immer seltener Bombenangriffe unternahmen - sie hatten jetzt andere Sorgen. Somit erlitt die hitlersche Blitzkriegstrategie ein volles Fiasko. Schuld daran war keineswegs der "General Frost", wie sich später die faschistischen Feldherren zu rechtfertigen suchten. Es lag an dem Massenheroismus und der Standhaftigkeit der Verteidiger von Moskau.
Nachdem der Feind von der Hauptstadt zurückgeworfen worden war, tauchten in ihren Straßen neue Plakate auf. Sie zeigten den gleichen Soldaten in Halbpelz und Pelzmütze, aber die Beschriftung war anders: "Unsere besten Wünsche! Weiter so!" Gemeint war nicht nur das nahende Neujahr 1942, sondern auch die Tatsache, dass unsere Truppen nach dem Zurückwerfen des Feindes weiter vorrückten. Der Weg bis zum Kriegsende war noch lang, voller schwerer Prüfungen und Verluste. Aber der Sieg, der bei Moskau errungen wurde, wuchs und erstarkte, um 1945 schließlich zu dem Großen Sieg zu werden.
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