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Thema: «Die Verschwulung der Welt»

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    Standard «Die Verschwulung der Welt»

    Wer fickt wen? über unterschiedliche Moralvorstellungen die arabische von westlichen Gesellschaften trennen

    Wer fickt wen?
    Netzeitung - 10. Nov 10:1
    Von Manuel Karasek

    «Die Verschwulung der Welt» ist eines der besten Bücher der Saison. Schonungslos legen Rashid al-Daif und Joachim Helfer offen, dass es unterschiedliche Moralvorstellungen sind, die arabische von westlichen Gesellschaften trennen.

    Der libanesische, 61jährige Schriftsteller Rashid al-Daif, oder zumindest sein literarisches Alter Ego, ist eines Tages regelrecht froh – vielleicht sogar erleichtert, als sich sein in der Pubertät befindlicher Sohn mit einem Mädchen in sein Zimmer zurückzieht. «Ich rief innerlich 'hurra!'», schreibt al-Daif, «als ich hörte, wie er die Tür von innen verschloss. Seine Männlichkeit war bewiesen.» Da der Sohn zunächst bei der französischen Mutter in Lyon aufwuchs, bekennt der Vater, dass er froh über dessen Rückkehr gewesen sei. Denn in Frankreich hätte er leicht homosexuell werden können. «In Beirut war das nur schwerlich möglich.»

    Zunächst ist es interessant, dass sexuelle Präferenzen hier mit der Geographie in Verbindung gesetzt werden. Macht der libanesische Zedernwald den Mann etwa empfänglicher für weibliche Reize? Man muss im Zusammenhang mit dem Buch «Die Verschwulung der Welt», in der diese Passagen zu finden ist, einiges erklären. Rashid al-Daifs Ton ist absichtlich naiv, er weiß nicht nur, dass Homosexualität in arabischen Gesellschaften mehr als ein Tabu ist. Wer sich dazu bekennt, begibt sich durchaus in Lebensgefahr.

    Brust-, Hand- und Barthaare

    Al-Daif analysiert, «dass das Bett der eigentliche Ort ist, an dem der Konflikt zwischen Orient und Okzident ausgetragen wird. Das Bett ist ein Kriegsschauplatz zwischen arabischer 'Tradition' und westlicher Moderne.»

    Rashid al-Daif erklärt zu Beginn des Buches, er habe nichts dagegen, sich mit einem homosexuellen Autor aus Deutschland – der auch knapp zwanzig Jahre jünger als er ist – im Rahmen des Austauschprogramms «West-östlicher Diwan» drei Wochen lang in Berlin, später in Beirut auszutauschen.

    «Manche Homosexuelle», schreibt Rashid al-Daif zur Zeit vor der Begegnung mit Joachim Helfer aber auch, «kennen ihre Grenzen nicht und belästigen andere ohne Hemmungen. Zumal ich sehr behaart bin, auch wenn ich keinen Schnurrbart trage, der das verrät. Ich sage das ganz offen und ohne Scheu. Ich befürchte, ich bin jetzt schon mitten im Klischee und bediene das Stereotyp über Homosexuelle. Aber was mir und manchen meiner Freunde widerfahren ist, erlaubt mir zumindest die Aussage, dass Brust-, Hand- und Barthaare erregend auf Homosexuelle wirken.»

    Ein Skandal

    In dem 200 Seiten langen Buch kommentiert der Berliner Autor Joachim Helfer den Text Rashid al-Daifs. Wie reagiert er auf solche Äußerungen? Er analysiert al-Daifs Aussagen – wohl wissend um seinen europäischen Blickwinkel, der die Sichtweise des Kollegen als «Fehlurteil, Ignoranz und Projektion» abtun könnte. Gerade aber das tut Helfer nicht, sondern er analysiert das Weltbild seines Kollegen, um zu verstehen. Es stellt sich heraus, dass der Begriff «Homosexuelle» in der Sprache al-Daifs vor allem vom Umkehrschluss lebt: «Wer penetriert, egal wen, ist nicht homosexuell.» Die Penetrierten, also die «Homosexuellen» und die Frauen teilen wiederum den Status, beherrscht zu werden.

    Die eingangs beschriebene Szene verdeutlicht für Helfer nur zu genau, wie es um das Geschlechtliche in al-Daifs Gesellschaft steht, der selbst aber eine durchaus andere Vorstellung davon hat, wie es sein könnte oder sollte. «Vorehelicher Geschlechtsverkehr», schreibt Helfer, «mag in den städtischen Mittelschichten Beiruts... inzwischen fast die Regel sein; er wird von der Gesellschaft nicht gern gesehen, aber geduldet, solange er eben unsichtbar bleibt. Schon im gebildeten Kairo aber ist Sex vor der Ehe nach wie vor ein echter Skandal, in den städtischen Unterschichten wie überall auf dem arabischen Lande schlicht lebensgefährlich.»

    Absichtlich naiv

    Rashid al-Daif hatte seinen Text – ohne Helfers Entgegnung – im Libanon veröffentlicht, wo dieser ein kleiner Bestseller wurde. Das Entscheidende dabei ist der Gegenstand, den Rashid al-Daif für seine Betrachtungen gewählt hat: Nämlich Joachim Helfer selbst, wie er aus der Perspektive Rashid al-Daifs lebt und denkt, wenn auch literarisch verdichtet und zugespitzt.

    Als nun dieser Text Helfer in einer deutschen Übersetzung erreichte, war die Überraschung mehr als groß. Was sollte er tun? Den Text zu verbieten, schloss er von vornherein aus. Also antwortete er darauf. Warum aber wirkt dieser Dialog mit einer solchen Vehemenz? Indem Rashid al-Daif das Private eines deutschen, in homosexueller Bindung lebenden Intellektuellen und Schriftstellers eben durch jene absichtlich naive libanesische Brille kommentiert, entblößt er gleichzeitig und absichtlich die Herrschaftsverhältnisse in arabischen Gesellschaften.

    Die Penetrierten gelten nichts

    Helfer beharrt in seinen Kommentaren wiederum auf den westlichen Errungenschaften universalistischer Werte, die das Individuum schützen. Gleichzeitig gesteht er zu, dass diese Errungenschaften womöglich lediglich Konsequenz einer Barbarei sind, deren Ausmaß sich die Araber nicht einmal vorstellen könnten.

    In einer Passage geht Helfer erneut auf das Gleichungssystem ein, das Rashid al-Daif im Zusammenhang mit Homosexuellen aufstellt und führt den Gedanken des Libanesen weiter: «Wenn es hauptsächlich die Spannung zwischen den nach Freiheit strebenden Frauen und den in der Herrschaft verharren wollenden Männern ist, die sich im arabischen Geschlechtsakt entlädt, die Penetration also nicht nur gelegentlich als Geste der Unterwerfung empfunden wird, sondern auch grundsätzlich so gemeint ist: Ja, dann wird allerdings verständlich, was streitende arabische und türkische Jungs in Berlin für die ärgste Drohung halten. Wer 'Ich fick dich!' als den absoluten Triumph über den absolut erniedrigten Gegner phantasiert, drückt damit eben nicht nur seine Wut auf eine Gesellschaft aus, die täglich ihn 'fickt', sondern auch, was er von fickbaren Menschen hält: nämlich nichts.»

    Joachim Helfer, Rashid al-Daif: Die Verschwulung der Welt. Rede gegen Rede. Beirut-Berlin. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Mit einem Nachwort von Joachim Sartorius. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006. 200 Seiten. 10 Euro

  2. #2
    Proud to be a Lipper Benutzerbild von Westfale
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    Standard AW: «Die Verschwulung der Welt»

    Zitat Zitat von Mjölnir Beitrag anzeigen
    Wer fickt wen? über unterschiedliche Moralvorstellungen die arabische von westlichen Gesellschaften trennen

    Wer fickt wen?
    Netzeitung - 10. Nov 10:1
    Von Manuel Karasek

    Wer 'Ich fick dich!' als den absoluten Triumph über den absolut erniedrigten Gegner phantasiert, drückt damit eben nicht nur seine Wut auf eine Gesellschaft aus, die täglich ihn 'fickt', sondern auch, was er von fickbaren Menschen hält: nämlich nichts.»

    Joachim Helfer, Rashid al-Daif: Die Verschwulung der Welt. Rede gegen Rede. Beirut-Berlin. Aus dem Arabischen von Günther Orth. Mit einem Nachwort von Joachim Sartorius. Edition Suhrkamp, Frankfurt am Main, 2006. 200 Seiten. 10 Euro
    Offenbar lesenswert!!!!

    M f G

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