[...] Huntington: So wie ich es sehe, werden die Beziehungen zwischen Ländern im kommenden Jahrzehnt höchstwahrscheinlich eher kulturelle Verpflichtungen, Bindungen und Gegensätze als andere Umstände widerspiegeln. Ganz offensichtlich wird Macht in der globalen Politik auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen, so wie sie es immer tut. Gewöhnlich jedoch steckt hinter Konflikten noch etwas anderes. Im Europa des 18. Jahrhunderts war es die Monarchie gegen die aufkommenden republikanischen Bewegungen, erst in Amerika und dann in Frankreich. Im 19. Jahrhundert war es der Nationalismus. Im 20. Jahrhundert kam die Ideologie ans Ruder, größtenteils, aber nicht ausschließlich als Folge der Revolution in Russland. Faschismus, Kommunismus und liberale Demokratie lagen im Wettstreit. Nun, das ist ziemlich vorbei. In der Theorie zumindest wird die liberale Demokratie rund um die Welt akzeptiert, wenn auch nicht immer in der Praxis. Also lautet die Frage, was wird der zentrale Brennpunkt der kommenden Jahrzehnte sein? Ich bleibe dabei, dass kulturelle Identitäten, Gegensätze und Zugehörigkeiten für die zwischenstaatlichen Beziehungen nicht nur eine Rolle, sondern eine bedeutende Rolle spielen werden. [...]
WELT.de: Manch einer wirbt für die Türkei als Brücke zwischen westlicher und muslimischer Welt. Zurecht?
Huntington: Ich würde das nicht sonderlich betonen. Die Türkei verfolgt ihre eigenen Interessen. Historisch gesehen hat sie große Teile der arabischen Welt erobert und die Araber haben Befreiungskriege gegen sie geführt. Das ist selbstverständlich Vergangenheit und muss zukünftige Ereignisse nicht bestimmen. Die Menschen allerdings erinnern sich daran. [...]
WELT.de:
Wie erklärt es sich, dass es in Europa zu mehr Spannungen zwischen Muslimen und anderen Gruppen kommt als in Amerika? Und inwieweit berührt das ihre These über Identität und Kultur der hispanischen Gemeinschaften in den USA?
Huntington :
Zunächst einmal ist die Zahl der Muslime in Amerika im Vergleich zu Europa klein. Zweitens haben jene, die nach Amerika kommen, einig tausend Seemeilen hinter sich. Sie sind nicht nur über die Grenze spaziert oder mit dem Boot über das Mittelmeer gekommen. Anders als Europa grenzen wir nicht an muslimische Länder, und das scheint einen grundsätzlichen Unterschied zu machen. Wie nun steht es um die Position der Muslime in Europa im Vergleich mit der der Hispanics in den Vereinigten Staaten?
Da gibt es grundsätzliche Unterschiede, denn die USA waren immer ein Einwandererland. Die Hispanics, die hierher kommen, stammen größtenteils aus Mexiko und Südamerika. Sie sind Katholiken, aber das ist eine amerikanische Religion. Ein Drittel unserer Bevölkerung ist katholisch, also hat das nicht die gleichen Auswirkungen. Sie sprechen Spanisch und Portugiesisch, Sprachen, die uns vertraut sind, also wirft das nicht die gleiche Art von Problemen auf. Die Situation ist also eine ganz andere als in Europa, wohin Menschen mit einer ganz anderen, nicht-europäischen Religion kommen.
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