Die modernen Totalitarismen
In der Moderne, insbesondere im 20. Jahrhundert, haben drei Totalitarismen auf sich aufmerksam gemacht:
1. Staatssozialismus, Stalinismus
2. Faschismus
3. Liberalismus (wird immer gern "vergessen" )
Ich selbst, Jahrgang 1962, habe keine der drei Totalitarismen "in voller Aktion" erlebt. Doch das, was sie anrichten, kenne ich nicht nur aus Büchern und Artikeln, sondern auch aus Berichten von Freunden, Bekannten, der Familie und aus nicht wenigen Begegnungen mit Apologeten einer der drei Ideologien.
Offiziell sind sich alle drei spinnefeind und ihre Vertreter drohen sich im Internet schon mal mit dem Aufhängen ach ja und unsere Liberalen können doch überhaupt kein Wässerchen trüben. Doch ich habe den Verdacht, dass Stalinismus, Faschismus und Liberalismus nur verschiedene Erscheinungsformen ein und desselben Totalitarismus sind. Sozusagen die gleiche Milch derselben gelbrotbraun gefleckten Kuh - diese "Milch" ist allerdings hochgradig kontaminiert und an ihr sind schon Millionen krepiert.
Derzeit dreht der Totalitarismus in seiner "liberalen", "neoliberalen", "liberalkonservativen" Erscheinungsform mächtig auf. Das Schlimme daran ist, dass er zumindest in Deutschland seinen Höhepunkt noch nicht erreicht hat und die Gefahr besteht, dass nach seinem Zusammenbruch nichts besser wird, sondern der Totalitarismus in seiner "rechten" oder "linken" Erscheinungsform weiter macht. Das 21. Jahrhundert verkommt so zum Remake des 20., ohne irgendeine Verbesserung.
Gemeinsamkeiten aller drei Totalitarismen
1. Die Pervertierung einer Idee
Das Treiben der Nazis hat mit "Nation" nur insofern etwas zu tun, als sie diese gründlichst gegen die Wand gefahren haben - kulturell, geistig, politisch, militärisch. Was Stalin veranstaltete, entsprach IMHO mehr großrussischem Chauvinismus als einem noch so krudem und schon unter Lenin repressivem Sozialismus. Die "Liberalen" unserer Tage sind alles mögliche, nur nicht im klassischen, individualistischem Sinne liberal.
2. Massenmord
Leider beließen es alle drei Totalitarismen nicht dabei, bezüglich der Beziehung von Theorie und Praxis zu versagen, sie brachten dabei Millionen ins Massengrab.
Die Morde der Nazis sind am besten erforscht und von Stalin und Mao nimmt man an, dass sie wie Hitler Millionen Menschen auf dem nicht vorhandenen Gewissen haben.
Die Apologeten bürgerlich-liberaler Gesellschaften tun gerne so, als ob ihr System niemandem auf dem Gewissen hat. In Westeuropa und Nordamerika glaubt man ihnen das auch - das liegt aber nur daran, dass die Massenmorde woanders veranstaltet werden. Die Franzosen haben in den 1950er und 1960er Jahren in Algerien Millionen Menschen ermordet oder in KZs gesperrt. Derartige koloniale und nachkoloniale Massaker gab es reichlich. Die Schuld daran ausschließlich auf lokale Tyrannen und Warlords zu schieben, ist nicht sehr hilfreich - schließlich werden diese Tyrannen nur zu oft von westlichen "Demokratien" ausgehalten. Die Staaten, in denen sie wüten, sind (Kunst-)Produkte des Kolonialismus, v. a. in Afrika mit verheerenden Auswirkungen.
3. Der Apparat
Bei Faschismus und Stalinismus ist es offenkundig, dass sich die Systeme über einen krebsartig wuchernden Apparat von Staat und Staatspartei definieren. Im Extremfall definieren sich Klassen dann nicht, wie im bürgerlichen Kapitalismus, über die Beziehung zu den Produktionsmitteln sondern über die Beziehung zu diesem Staatsapparat. Siehe die Nomenklatur im Staatssozialismus oder die NS-Funktionäre und -Elite im Dritten Reich.
Lustigerweise fordern "Liberale" dagegen den "schlanken Staat" und privatisieren, was das Zeug hält. Doch sie bauen den Apparat nicht ab, sondern verlagern ihn von der öffentlichen, staatlichen, zumindest formal verantwortlichen Sphäre auf die private, dem Markt unterworfene und jeder Verpflichtung am Gemeinwesen entzogene Sphäre. Die Bürokratie wächst und gedeiht auch in ihrem System, nur gönnen sich die Manager offen und ungeniert Gehälter, die alles übertreffen, was selbst Spitzenfunktionäre in einem etatistischem System verdienen.
Ach ja, die nagende Angst der "kleinen Leute", beim Apparat in Ungnade zu fallen, aus dem System rausgekickt zu werden, ist im "Liberalismus" nicht weniger präsent als im Faschismus oder Stalinismus.
4. Die Säuberungen
"Es gibt nichts Schmutzigeres als Säuberungen" - und in allen drei Totalitarismen werden sie mit Feuereifer praktiziert. Sie richten sich auch und insbesondere auf "Abweichler" in der eigenen politischen Strömung. Stalin hat vermutlich mehr Kommunisten umbringen lassen als irgendein Antikommunist. Sowohl Bucharin - Sozialismus in der SU aufbauen - als Trotzki - Export der Revolution - mussten dran glauben und noch der DDR wurde vorgeworfen, die Leute besonders zu verfolgen, die "auf der eigenen Linie links" waren.
Zu Hitlers ersten Aktionen gehörte es, im "nationalen" Lager die umbringen zu lassen, die von seiner Linie abwichen. Gregor Strasser, General Schleicher und Röhm, Otto Strasser war im Exil, Ernst Niekisch meines Wissens im Gefängnis.
So etwas Schlimmes tun die Liberalen natürlich nicht - nein sie gehen subtiler vor :rolleyes: So hat im Falle der FDP Möllemann zu den "Altliberalen" gesagt, sie sollten verschwinden. Als dann sein Projekt einer rechtspopulistischen Volkspartei - "Projekt 18" - in den Bundestagswahlen 2002 scheiterte, war er es dann, der verschwand :rolleyes:
Noch mehr "gesäubert" wurde bei den Grünen. Diese Partei, die zu ihren besten Zeiten quer zu allen Ideologien lag und von "sehr deutsch" bis linksradikal-utopisch alles war, war wohl nie eine klassisch bürgerlich-liberale Partei. Aber sie pflegte immer einen radikalen Individualismus und setzte sich für die Gleichberechtigung von Frauen, Homosexuellen und Einwanderern ein.
Doch gerade hier mobbten die "Realos" - unschwer als in der Wolle gefärbte Neoliberale zu erkennen - nach und nach alle anderen Strömungen heraus. In den 1980ern die Fundis, für die Namen wie Jutta Dithfurt standen. Das Agieren an der Regierung 1998 bis 2002 dürfte die Geduld vieler Grünen-Mitglieder schon arg strapaziert haben und mit der Zustimmung der Grünen zur "Agenda 2010" wurde wohl der letzte Linke rausgemobbt.
Im Falle "liberaler" Säuberungen darf man nicht vergessen, dass sie sich primär in der Wirtschaft abspielen. Der Satz "im Neoliberalismus gibt es keine Mittelschicht mehr" sollte eigentlich bei den bürgerlichen Trägern - echter - liberaler Ideen die Alarmglocken schrillen lassen. Ich bin mir sicher, dass vieles, was "liberale" Ideologen ihrer bürgerlichen Klientel aufschwatzen, zum - geplanten und gewollten? - wirtschaftlichen Ruin dieser Klientel führen wird. Plötzlich sehen sich Hausbesitzer in Verhandlungen mit ihren erwerbslosen Mietern verwickelt, weil diesen das Job-Center aufgetragen hat, eine Mietsenkung zu erreichen. "Hartz IV ist in der Mittelschicht angekommen" - sollte es da hin?
5. Die Protagonisten der drei Totalitarismen
Am erschreckendsten ist die Art und Weise, wie viele Protagonisten einer totalitären Ideologie ihre bis dato mit Feuereifer vertretenen Überzeugungen "wechseln" können, aber ohne ihre totalitäre Einstellung überwunden zu haben.
Immer wieder werden Anekdoten von strammen Nazis erzählt, die - kaum waren sie im Machtbereich der Roten Armee - zu strammen Kommunisten wurden. Bei den PGs im Westen hatte ich oft mehr Verständnis dafür, dass sie auf Hitler und die Illusion von Größe, Volksgemeinschaft und vorgeblich heiler Welt reingefallen waren (wer wurde nicht schon mal von Politikern verarscht?) als dass sie nach 1945 in einer BRD Karriere machten, die in allem die Antithese zu ihren vorherigen Überzeugungen war.
In der BRD haben bei SPD und Grünen viele Linke Karriere gemacht, in dem sie zu Apologeten und Vollstreckern neoliberaler Politik wurden - der Name Gerhard Schröder steht für unzählige andere.
Ein Grüner sagte einmal, die ehemals in stalinistischen K-Gruppen aktiven Grünen seien am weitesten nach rechts gerückt. Mit dem gleichen Dogmatismus, mit den sie früher stalinistische Diskurse führten, führten sie nun neoliberale Diskurse. Passt ja: immer stramm die "Parteilinie" vertreten und Andersdenkende nach alles Regeln der Kunst vorführen und diffamieren - Inhalte sind da austauschbar.
Was wird eigentlich aus den Mittelstands-Krautern, wenn im Zuge der Globalisierung ihre Unternehmen den Bach runtergegangen sind und sie merken, dass bei FDP und Union ihre wirtschaftlichen Interessen nicht gut aufgehoben waren? Wie vor 1933 die Träger eines Faschismus??
Fazit: heute rot, morgen gelb, übermorgen braun - anythin goes :rolleyes:
6. Nach dem Totalitarismus - vor dem Totalitarismus?
In der BRD gruselt mich nicht nur der gegenwärtige "liberale" Totalitarismus, sondern auch das, was auf ihn folgen könnte. Gerade unter der Annahme der Austauschbarkeit totalitärer Ideologien kann der Umschlag von "liberal" in faschistisch oder stalinistisch schnell erfolgen. Was die Pseudoliberalen den Menschen an Freiheit noch nicht nehmen konnten, rauben ihnen dann das Nachfolgesystem.
Die potenziellen Nachfolger
Nationalismus:
An ihm stört mich das Beharren auf weitgehender ethnischer Homogenität - der Zug ist abgefahren! "Nation" kann ich mir eigentlich nur als durch Geschichte und Kultur definiertes Gemeinwesen vorstellen, nicht als auf Gedeih und Verderb zusammengeschweißte "Schicksalsgemeinschaft". Erträglich sind nur jene Nationalisten, die im allgemeinen und auch im Sozialen jene Gemeinwesen-Orientierung haben, dien den "Liberalen" vollständig abhanden gekommen ist.
Sozialismus:
Theoretisch die Ideologie der "kleinen Leute", nur hat sie diesbezüglich in der Praxis jämmerlich versagt. So genannte "Sozialisten" haben nach 1945 einen Teil meiner Familie aus den Ostgebieten vertrieben - anstatt, wie es sich für Genossen gehört, sie an Ort und Stelle in einem Sozialismus zu lassen, der diesen Namen verdient.
So verführerisch die Idee ist, im noch nicht eingetretenen Extremfall mit einem erneuten Sturm auf das Winterpalais die Notbremse zu ziehen, so sehr graust mir vor einem Remake eines gescheiterten Systems.
7. Abhilfe?
Als der britische Philosoph Popper 1940 glaubte, angesichts eines vom Dritten Reich und der Sowjetunion beherrschten Europas sei es mit der Freiheit bald vorbei, entwickelte er die Weltsicht des kritischen Rationalismus, nachzulesen in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde".
Ich bin zwar der Meinung, er hat bei den Feinden der "offenen Gesellschaft" den Liberalismus sträflich ignoriert, finde das Konzept der "offenen Gesellschaft" (sofern es nicht zur Beliebigkeit verkommt) aber besser als ein auf der Vorherrschaft einer Ideologie basierendes Gemeinwesen.
Die "offene Gesellschaft" stelle ich mir so vor, dass man vom Liberalismus seine Ablehnung der Bevormundung des Individuums durch Staat, Staatsideologie, patriarchale Familie, gesellschaftliche Zwänge nimmt und den Rest - seine Asozialität ("there is no such thing as society"), die idiotischen ökonomischen "Theorien", den Wahn vom "Eigentum, Eigentum über alles" und den Unfug von schrankenloser "wirtschaftlicher Freiheit" - ein für allemal auf die Müllkippe der Geschichte schmeißt.
Sozialismus kann man dann ohne Staatspartei und Staatsideologie praktizieren und die "Nation" beschränkt sich auf Geschichte, Sprache und Kultur.