Göttertränen im Watt
Bernstein für den Pharao, Zinn nach Mykene — schon das bronzezeitliche Nordeuropa betrieb Fernhandel. Scherbenfunde vor der norddeutschen Küste sorgen nun für Verwirrung: Gab es vor 3000 Jahren sogar einen direkten Schiffsverkehr von Pellworm bis zu den Pyramiden?
Den Blick streng auf den Boden geheftet, schlurfte Wattführer Karsten Hansen, 65, nahe der Hallig Südfall durch die trockengefallene Nordsee. Ihn umgab endloser grauer Modder, der bei jedem Schritt unter seinen nackten Füßen schmatzte. Plötzlich sah der Mann einen freigespülten blauen Stein.
Das Fundstück leuchtete: Lapislazuli, ein etwa zehn Zentimeter großer Rohling aus Afghanistan. So etwas wurde in der Bronzezeit gern als Gastgeschenk verwendet.
Wie kommt der Schmuckstein ins Watt? Hansen gehört zur Crew des Ethnologen Hans Peter Duerr, der schon seit 1994 – auf eigene Faust und widerrechtlich – an der Nordseeküste nach Spuren der mittelalterlichen Stadt Rungholt sucht. Mit einem abgetakelten Segler fährt die Truppe alljährlich hinaus, lässt sich trockenfallen und schwärmt mit Gummistiefeln in den Schlick aus. Die letzte Expedition fand im August statt. Duerr zufolge machte seine Mannschaft bei ihrer Schlick-Fahndung reiche, ja sensationelle Beute.
Sie fand
► griechische Münzen aus dem 4. und 3. vorchristlichen Jahrhundert;
► Schweinezähne der bronzezeitlichen Haustiere;
► Reste eines phönizischen Kochtopfs und
► Scherben einer Bügelkanne sowie einen Schiffsanker, beides aus minoischer Zeit (um 1300 vor Christus).
Der phantasiebegabte Gelehrte hat für die Anhäufung mediterraner Altertümer im Wattenmeer nur eine Erklärung: „Vor der Küste liegt ein alter Fernhandelsplatz. Im 14. Jahrhundert vor Christus ist dort eine griechische Galeere gekentert.” Ein Knüller? Seitdem Duerr seine erstaunlichen Trümmer im Fototeil eines Buches vorstellte, kocht in der Fachwelt eine feindselige Debatte. Das Archäologische Landesamt in Schleswig (ALSH) hält den Mann für unglaubwürdig. Ein Mitarbeiter argwöhnt: „Vielleicht haben seine eigenen Leute die Scherben ins Gelände geworfen, um ihn zu verulken.” Die Ansicht, während der Mittleren Bronzezeit in Norddeutschland (ab 1550 vor Christus) habe es einen Fernhandel zur See gegeben, sei „pure Phantasie”, meint ALSH-Forscher Hans Joachim Kühn. „Vor 3500 Jahren gab es höchstens einen regionalen Tausch von Hand zu Hand und Stamm zu Stamm.” Doch der Gerügte kontert jetzt. Mehrere seiner Helfer haben dem SPIEGEL gegenüber die Funde bezeugt. Zudem liegen neue, handfestere Beweismittel vor.
Die alte Lehrmeinung bekommt Risse:
►Das Bonner Helmholtz-Institut für Strahlen- und Kernphysik hat die strittigen Scherben einer Neutronenaktivierungsanalyse unterzogen. Dabei wird der Materialmix des gebrannten Tons auf milliardstel Gramm genau untersucht. So entsteht eine Art Fingerabdruck. Ergebnis: Die Scherben im Watt stammen „mit hoher Wahrscheinlichkeit aus der zentralkretischen Region um Knossos und Phaistos” — und sind wirklich etwa 3500 Jahre alt.
►Die Schmutzpartikel, die den Stücken anhaften, ließ Duerr ebenfalls untersuchen — am Berliner Rathgen-Forschungslabor. Der Dreck entspricht in etwa dem „Bodenmilieu des Watts”. Die Keramik könnte dort wahrhaftig lange gelegen haben.
Ist dem schillernden Ethnologen also tatsächlich ein Coup gelungen? Feilschten schon die Zeitgenossen Tutanchamuns mit den Fietjes von der Waterkant? Die Archäologen aus Schleswig mögen das nicht glauben. Sie halten Duerr für einen Trickser. „Statt die Verunreinigungen auf den Scherben von einem unabhängigen Wissenschaftler abkratzen zu lassen, hat er das selbst getan und die Tüte ans Labor verschickt”, wirft ihm Kühn vor. „Wer beweist, dass er dabei nicht schwindelte?” Aber vielleicht knurren die Gralshüter der Schulmeinung nur deshalb so laut, weil ihre eigene Position ins Wanken gerät. Auch andere Befunde machen jetzt deutlich: Die Bevölkerung der Bronzezeit trieb weit mehr Handel als bislang gedacht. Es sind die modernen Prüftechniken der Mineralogie und Archäometallurgie, die nun zeigen, über welch ungeheure Distanzen hinweg die Vorzeit seltene Rohstoffe handelte:
► Der Gletschermann Ötzi etwa hatte feinsten Feuerstein vom Gardasee in der Tasche.
► Das Kupfer für die berühmte „Himmelsscheibe von Nebra” stammt aus den Ostalpen.
►Schon vor über 3000 Jahren ahmten die Urgermanen ägyptische Klappstühle nach. In ihren Grüften lagen „Schleifennadeln” aus Zypern und Glasperlen aus Griechenland.
Europa war durchlässiger als lange vermutet, Luxuswaren und religiöse Ideen wurden per Paddelboot quer über den Kontinent verbracht. Sogar auf hohe See wagten sich die Händler Alteuropas hinaus. Schon in der Steinzeit bestand ein Fährverkehr nach Helgoland. Der Grund: Auf der Insel kommt ein seltener roter Feuerstein vor. Die neolithischen Kaufleute tauschten ihn bis nach Holland. Noch vor wenigen Jahren schien all das undenkbar.
[...]
Es könnte eine Verbindung gegeben haben vom Watt bis in die Wüste. Bewiesen ist allerdings noch nichts. Weil er formaljuristisch nicht graben darf, hütet der Ethnologe seine Scherben in einem Versteck. Eine Übergabe an das Landesamt verweigert er. Feindlich stehen sich Parteien gegenüber. „Es ist eine Tragödie”, meint Albert Panten, ein Historiker aus Niebüll, „alle blockieren sich gegenseitig.” Er regt deshalb eine unabhängige Kommission an, die nun alle strittigen Watt-Trümmer prüfen soll. „Es muss etwas geschehen”, sagt Panten, „vielleicht steckt hinter den Scherben wirklich eine Sensation.
(Spiegel Nr. 49 / 4.12.2006, S. 160ff)