Argentinien
Eroberte Fabriken
Von Jürgen Vogt
«Die Genehmigung für die Informationsstände liegt vor. Kommt in
Arbeitskleidung und bringt alles mit, was ihr vorzeigen könnt», sagt
Luis Caro, der Präsident der nationalen Bewegung der ArbeiterInnen, die
«ihre» Fabriken nach dem Bankrott wieder flottgemacht haben. In
Argentinien gibt es gegenwärtig etwa 120 Fabricas Recuperadas, davon
sind 80 in einer nationalen Bewegung zusammengeschlossen. Dazu gehören
etwa Metallfabriken, Motorenwerke, ein Krankenhaus und eine Zeitung.
Mit vierzig MitarbeiterInnen haben sie angefangen, heute arbeiten hier
54 Personen. Alle erhalten den gleichen Lohn, 2000 Pesos monatlich (etwa
800 Franken). Von Montag bis Freitag wird täglich neun Stunden
gearbeitet. Einmal im Monat ist Betriebsversammlung. «Uns geht es besser
als im vergangenen Jahr», sagt Gallo. «Wir arbeiten hart und suchen
ständig nach neuen Absatzmöglichkeiten im Ausland.» In Frankfurt fand im
September die Automechanika statt, die Internationale Messe der
Automobilwirtschaft mit 4500 AusstellerInnen aus 70 Ländern. Mit dabei
war Cristales San Justo - Cooperativa de Trabajo als weltweit einzige
Fabrica Recuperada.
Der Anfang
«Angefangen hat alles im August 2000», erinnert sich Luis Caro: In
Avellaneda machten - wie an vielen Orten im Land - die Fabriken dicht.
Die Stadt liegt in der Provinz Buenos Aires, in einer Gegend mit viel
Industrie. Unternehmen mit 1000 oder 1500 ArbeiterInnen waren hier keine
Seltenheit.
Caro war damals Delegierter der Sozialpastorale der katholischen Kirche,
seine Frau arbeitete in der Kommunalverwaltung. Die ArbeiterInnen aus
den stillgelegten Betrieben gingen zur Kommunalverwaltung und fragten um
Rat. Caros Frau schickte sie zu ihrem Mann. «Ich hatte bereits
Erfahrungen mit Kooperativen gemacht», sagt Caro. «Viele Menschen
besetzten damals brachliegendes Gelände und bildeten eine
Hausbaugenossenschaft. Der Staat enteignete das Gelände und übergab es
den Besetzern. Bei den Fabriken wollten wir gleich vorgehen.»
Allerdings konnten sich die ArbeiterInnen anfänglich eine autonome
Lösung gar nicht vorstellen. Caro: «Sie glaubten, dass ein neuer
Besitzer ihre Fabriken übernehmen würde.» Auch die PolitikerInnen und
die Gewerkschaften nahmen diese Haltung ein. «Alle waren damals der
Meinung, Kooperativen würden nicht funktionieren.» Doch schon im
Frühling 2001 hatten vier Fabriken wieder mit der Produktion begonnen.
Und Ende 2001 waren es bereits dreissig. Diese Entwicklung führte
schliesslich zu einer nationalen Bewegung.
Selbstverwaltung ist lernbar
Aufgeräumt und verlassen wirkt La Forja, die ehemals zweitgrösste
Schmiede des Landes. Vor dem Eingangstor döst ein Hund. In der
Metallfabrik in San Martin waren einst 450 ArbeiterInnen mit der
Produktion von Motorteilen beschäftigt, heute sind es noch dreissig.
«Wir nannten uns la segunda forja, die zweite Schmiede», erzählt der
sechzigjährige Oscar Andrada, ein ehemaliger Abteilungsleiter. «Unsere
Produkte waren international bekannt und wurden nach Europa und in die
USA geliefert.» Der Zusammenbruch kam nicht über Nacht: Die Belegschaft
- am Ende noch 120 MitarbeiterInnen - war informiert. Als 2001 ein
Grosskunde wegbrach, war Schluss.
Nach der Pleite 2001 war die Fabrik zunächst verlassen. Dann ging sie an
die staatliche Konkursverwaltung. Wachen stellten sicher, dass nichts
wegkam. Vor drei Jahren übernahm schliesslich die Kooperative La Forja
San Juan den Betrieb. «Wir hatten damals keinen Peso», sagt Andrada, «es
war vor allem ein Lernen, wie alles geht, von der Buchhaltung bis zum
Entwurf eines neuen Eisenteils, von der Analyse der Marktchancen über
Behördengänge und die Kundensuche. Manchmal hatten wir Glück und
manchmal nicht.»
Formal gehört die selbst verwaltete Fabrik zwar immer noch der Provinz
Buenos Aires. Doch der Kooperative wurde während zehn Jahren ein
Vorkaufsrecht eingeräumt.
Ein ähnliches Schicksal ereilte die Textilfabrik Brukman, die sich heute
Cooperativa de Trabajo 18 Diciembre nennt. Brukman ist in Argentinien
eine renommierte Marke für Herrenbekleidung. Bis zu 400 MitarbeiterInnen
produzierten hier einst Anzüge und Hosen. An Weihnachten 2001 machte
sich schliesslich der Fabrikbesitzer aus dem Staub, die Belegschaft
wartete vergeblich auf ihren Lohn. Trotzdem arbeitete sie weiter, bis
zur ersten Räumung im März 2002. Ein halbes Jahr später folgte die
zweite, auch wieder auf richterliche Anweisung, denn die ArbeiterInnen
hielten sich illegal in der Fabrik auf. Als die Behörden Brukman im
April 2003 zum dritten Mal räumen wollten, wehrten sich die
ArbeiterInnen. Sie blockierten die Fabrik und liessen sich auch nicht
durch Schlagstöcke und Tränengas vertreiben. Heute gehören die Maschinen
und der Markenname Brukman in Form einer Leihgabe der Kooperative, das
Gebäude gehört weiterhin der Regierung. Siebzig Personen zählt die
Belegschaft bei Brukman, davon sind knapp die Hälfte Frauen.
«Für viele ArbeiterInnen bedeutete die Selbstverwaltung den Ausweg aus
der Misere. In vielen Fällen, in denen die ArbeiterInnen auf staatliche
Unterstützung oder einen privaten Investor warteten, standen sie am
Schluss mit leeren Händen da», zieht Caro Bilanz. Doch er bleibt
realistisch, was die Bedeutung der selbst verwalteten Betriebe in der
argentinischen Wirtschaft betrifft. «Wir werden wohl in der Minderheit
bleiben», sagt Caro. «Doch immerhin gehören die Fabricas in einigen
Bereichen zu den Marktführern.» Und wenn man sehe, dass es vor sechs
Jahren noch keine Fabrica Recuperada gegeben habe, sei dies eine grosse
Leistung. Die ArbeiterInnen der zurückeroberten Fabriken haben laut Caro
eine wichtige Erfahrung gemacht: «Vorher waren sie abhängige Arbeiter
und Arbeiterinnen - heute betreten sie den Betrieb als Unabhängige.
Früher wurde eine Fabrik zugemacht. Heute gibt es dazu eine Alternative.»
«Die Fabriken gehören uns»
Die Wirtschaftskrise hatte in Argentinien zu einer Aufhebung der
Dollarbindung des Pesos und einer starken Kapitalflucht ins Ausland
geführt. Auf dem Höhepunkt der Rezession wurden nach dem Jahr 2000
Tausende Fabriken im ganzen Land geschlossen. Betroffene ArbeiterInnen
begannen daraufhin ihre Fabriken zu besetzen und in Selbstverwaltung
weiter zu produzieren. Bereits kurze Zeit später schlossen sich 80 der
120 Fabrik-Kooperativen zum Movimiento Nacional de Fabricas Recuperadas
por los Trabajadores (MNFR) zusammen, einer landesweiten Bewegung für
instand besetzte Fabriken.
Um Mitglied bei der nichtstaatlichen Organisation MNFR zu werden, müssen
die ArbeiterInnen ihre Fabrik zurückgewinnen, wieder in Betrieb nehmen
und eine horizontale Organisationsstruktur mit Einheitslöhnen aufbauen.
Gemäss Luis Caro, dem Präsidenten der MNFR, setzt die Bewegung sich aber
nicht nur gegen Räumungen von besetzten Fabriken zur Wehr, sondern nutzt
auch den Rechtsweg. So kann die Regierung, gestützt auf ein Konkurs- und
Enteignungsgesetz, die FabrikbesitzerInnen enteignen, ihnen eine
Abfindung zahlen, KonkursverwalterInnen einsetzen und auch die
Verpflichtungen gegenüber GläubigerInnen übernehmen. Im Anschluss daran
überlässt die Regierung die Fabrik dann den ArbeiterInnen. Bis heute hat
der Staat aber noch an keine der ehemaligen BesitzerInnen etwas ausbezahlt.
Heute gibt es in Argentinien über 5000 geschlossene Betriebe. Mit einer
Reform der Gesetze könnten so in kurzer Zeit 500000 Arbeitsplätze
entstehen. Das sei ein realistisches Projekt, sagt Caro: «Die Fabriken
sind da und die Arbeiter vorhanden.» Das Schwierigste sei jedoch, die
ArbeiterInnen selbst davon zu überzeugen, dass sie in der Lage sind,
ihre Fabrik in Eigenverantwortung zu betreiben.
WOZ vom 19.10.2006