LEBENSLANG IM MORDFALL "JULIA"

Der Himmel, die Wiese und die blauen Teile

Von Gisela Friedrichsen

Selten gab es einen Angeklagten, den in den Augen der Öffentlichkeit so deutlich das Kainsmal seiner Schuld zeichnete wie im Mordfall "Julia". Doch die Tat war weitaus weniger eindeutig: Das Gericht verurteilte einen Mann, für dessen Delikt es keine überzeugenden Erkenntnisse, keine Spuren und keine Zeugen gibt.

Als der Vorsitzende der Schwurgerichtskammer des Gießener Landgerichts, Bruno Demel, am Dienstag nachmittag das Strafmaß verkündete, brauste Beifall auf: Lebenslang wegen Mordes an der achtjährigen Julia aus dem mittelhessischen Biebertal in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch und sexueller Nötigung des Kindes. Damit war aus berufenem Mund das Urteil über Thorsten V., 35, gesprochen, das Volkes Stimme schon vor dem Prozess gefordert hatte. Denn selten gab es einen Tatverdächtigen, Beschuldigten oder Angeklagten, den in den Augen der Öffentlichkeit so deutlich das Kainsmal seiner Schuld zeichnete wie eben diesen V., von Beruf biederer Verwaltungsangestellter der Universität Gießen, verheiratet, ein Kind. Beim Versuch, so das Gericht, Spuren der Tat im Keller seines Wohnhauses zu vernichten, kam es zu einer Verpuffung, bei der V. schwersten körperlichen Schaden nahm. 80 Prozent seiner Haut verbrannten. Unabhängig vom Urteil - für den Rest seines Lebens ist V. seitdem ein Krüppel, von Brandwunden und Narben entstellt, geh- und ohne die Hilfe anderer lebensunfähig.
Julia war am Spätnachmittag des 29.Juni 2001 in der Nähe des Wohnhauses von V. letztmals gesehen worden. Sie trug einen pinkfarbenen Badeanzug, denn es war ein heißer Tag, und darüber ein weißes T-Shirt. V. kam gegen 17.35 Uhr nach Hause, nachdem er über den Tag verteilt ziemlich viel Alkohol zu sich genommen hatte. Ein Nachbar beobachtet, wie er mit quietschenden Reifen versuchte, seinen Wagen in eine Parklücke zu bugsieren, die eigentlich groß genug war, um normal einzuparken. Freundliche Worte des Nachbarn beantwortete er mit unklarem "Nuscheln". Sachverständige errechneten einen Wert von 1,4 Promille Blutalkoholgehalt bei V. um diese Zeit.

Eine halbe bis eine Stunde später kam V.s Frau nach Hause. Rechtsmediziner schlossen aus dem Verdauungszustand der Essensreste in Julias Magen auf eine Todeszeit zwischen 18 und 19 Uhr. Zusammen mit weiteren Indizien ergab sich das Bild, dass V. mit dem Tod des Kindes etwas zu tun haben musste: An den verkohlten Resten eines Teppichs, den V. in Brand gesetzt hatte, fand sich zum Beispiel eine DNS-Spur Julias. Leichenspürhunde schlugen an einem Schrank im Keller V.s an. Vier Tage später, am 3.Juli 2001, kurz nach 23 Uhr, wurde V.s Auto geblitzt, als er über die Bundesstraße 45 raste, fünf Kilometer von jenem brennenden Holzstapel im Wald entfernt, auf dem die Leiche Julias bis zur Unkenntlichkeit verbrannte. Sie war, so stellten Rechtsmediziner fest, an zwei heftigen Schlägen gegen den Kopf gestorben. Schläge womit? Man weiß es nicht.

Der Vorsitzende beschrieb in der mündlichen Urteilsbegründung den Tatablauf, den das Gericht seinem Urteil zugrunde legte. Demnach veranlasste V. das Mädchen, zu ihm ins Haus und in den Kellerraum zu kommen, wo er später den Teppich anzünden sollte. Möglicherweise versprach er Julia, ihr seine dort aufbewahrte Sammlung von Mickey-Mouse-Heften zu zeigen. Möglicherweise nahm er dort sexuelle Handlungen vor und tötete Julia. Möglicherweise versteckte er die Leiche dann in dem Schrank, auf den die Spürhunde reagierten.

Wie kam das Gericht zu dieser Version des Tatablaufs, für den es keine Zeugen gibt und auch kein Geständnis? Denn V. bestreitet, seitdem er aus dem Koma aufwachte. Er bestreitet bis heute die Vorwürfe der Anklage: dass er sich Julias bemächtigt habe, "um sich an und mit ihrem Körper durch verschiedenen Manipulationen geschlechtlich zu erregen".

Der Vorsitzende verglich die Urteilsfindung mit dem Zusammensetzen eines Puzzles (die Staatsanwaltschaft hatte von einem Mosaik gesprochen, doch Richter Demel, so sagte er es jedenfalls, hielt das Bild des Puzzles für treffender): Man könne auf den Einzelteilen nicht viel erkennen; manche Teile erklärten sich erst im Zusammenhang mit anderen und so fort. Die Ausführungen des Vorsitzenden zur Technik des Erstellens eines Tatbildes mittels Puzzle-Teilen waren umfangreich - und riskant. Denn ein Puzzle wird nach einer Vorlage zusammengesetzt. Hatte das Gericht bereits ein Bild von der Tat, als es zu verhandeln begann und die Einzelteile auf ihre Passlichkeit prüfte?

Offenbar ja. Denn der Vorsitzende sagte weiter: "Wenn ich weiß, dass auf dem Bild der Himmel ist und Wiese, dann kann ich die blauen Teile oben platzieren und die grünen unten. Natürlich kann am Himmel eine Wolke sein und auf der Wiese eine Blume. Doch wenn der Himmel ansonsten wolkenlos ist und die Wiese ohne Blumen, dann liegt es nahe, dass fehlende Teile auch einfarbig blau oder grün sind."

Die Staatsanwaltschaft hatte ein Sexualdelikt angeklagt, für das es keine überzeugenden Erkenntnisse, keine Spuren und keine Zeugen gibt. Dass V. die Leiche beseitigt, dass er den Teppich im Keller angezündet und falsche Angaben bezüglich seines Autos gemacht hat, dass er seinen Wagen sorgfältig reinigte, so das Gericht, beweist, dass er der Täter sei. Täter, mutmaßlich ja - aber Sexualtäter? Spuren eines vollendeten Missbrauchs gibt es nicht. Das muss sogar das Gericht zugeben. Aus Handschellen, auf die kleinste Größe eingestellt, die in der Asche des Holzstapels gefunden wurden, schließt das Gericht auf eine Fesselung des Opfers. Aus der Fülle von Sex-Magazinen und Porno-Videos in V.s Wohnung schließt es auf eine sexuelle Motivation der Tat. Aus dem Umstand, dass wenige Tage nach Julias Tod unter einer Gießener Autobahnbrücke ein Umzugskarton und eine Sporttasche volle CD-ROMs, Pornoheftchen und entsprechenden Videos aus V.s Besitz von einem Spaziergänger zufällig entdeckt wurden, schließt das Gericht auf sexuellen Missbrauch. Wie das? Man weiß nicht, wann Karton und Tasche dort deponiert wurden, man weiß nicht, warum und von wem. Gleichviel, irgendwie passt es nach Auffassung des Gerichts offenbar ins Bild.

Der psychiatrische Sachverständige Professor Willi Schumacher sah im Besitz derartigen Materials nichts Abartiges, zumal es sich nicht um Kinderpornografie handelte. Deutet das Verschwindenlassen angesichts einer drohenden Hausdurchsuchung auf schlechtes Gewissen? Kann man darin nicht auch den Versuch sehen, einem möglicherweise falschen Verdacht zu entgehen? Das Gericht sagte: "Der Angeklagte war in hohem Maße sexualisiert. Er hat sich täglich mit diesen Dingen beschäftigt. Er fiel durch sein Interesse an Frauen auf. Unter Alkohol hat er sie wahllos angemacht." Beweis für einen Sexualmord an einem Kind?

"Wir wissen", so der Vorsitzende, " dass der Angeklagte bestimmte sexuelle Fantasien mit Fesselungsszenen hatte." Woher weiß das Gericht das? Weil das Pornomaterial auch solche Darstellungen enthielt? Weil in dem Holzstapel Handschellen gefunden wurden? Oder weil nach der Bildvorlage der Staatsanwaltschaft eine Sexualtat zusammenzupuzzeln war? Natürlich fehlten einige Teile des Puzzles - doch was soll`s, wenn der Himmel so schön blau ist. "Die Gesamtschau erlaubt die Feststellungen zur Verurteilung", sagte der Vorsitzende und ordnete die Fortdauer der Untersuchungshaft gegen V. an, wegen Fluchtgefahr. Denn der Angeklagte (der sich nur mit dem Rollstuhl fortbewegen kann) befinde sich schließlich auf dem Weg der Besserung. Die Verteidigung will Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.