3. Februar 1916:
8 Uhr 20 V[ormittag]. Abfahrt von Hamam. Eisige Kälte. Alle Pfützen gefroren. Drei Männer, die tags zuvor am Tor in der Sonne sassen, sind erfroren. Ich kaufe den gesamten noch vorhandenen Brotvorrat auf, d.h. 6 Laib Brot.
8 Uhr 50: L: 1 Leiche in Verwesung.
9 Uhr 01: L: 1 Skelett mit Strümpfen.
9 Uhr 40: L: 1 bekleidete frische Leiche.
10 Uhr 10: L: 1 bekleidete frische Leiche, Gesicht schwarz.
10 Uhr 20: L: 1 bekleidete frische Leiche, Beine angefressen, Gesicht schwarz.
10 Uhr 26: L: 1 bekleidete frische Leiche, Gesicht verhüllt.
10 Uhr 30: R: 1 bekleidete frische Leiche, Gesicht schwarz.
10 Uhr 31: L: 1 Pferd mit Sattel ohne Reiter am Weg stehend.
10 Uhr 57: 1 Leiche, mit Tuch zugedeckt.
11 Uhr 48: L: 1 junge Frau, ganz frisch. Blaue Pumphosen, schwarze Jacke. Friedlicher Gesichtsausdruck. Gesicht braun. Der Kutscherjunge hat sich Steine gesammelt und bombardiert damit die Leichen der "Ungläubigen". Er bekommt von meinem persischen Diener eine Tracht Prügel.
12 Uhr 05: L: 1 zerrissene Leiche. 1 vollkommen bekleidetes Bein. Das andere, bis auf die Knochen abgenagt, etwas weiter weg. 1 offenes Grab daneben.
12 Uhr 25: 10 frische Gräber.
12 Uhr 35: R: 1 nackter Junge. Kopf schon Schädel. Der Gepäckwagen stürzt um. Ein Pferd durch Beinbruch unbrauchbar geworden. Der kutschierende Araberjunge bekommt von mir selber eine Tracht Prügel und redet mich seitdem nicht mehr mit Effendi, sondern mit Bey an.
12 Uhr 45: 6 Ochsenwagen mit armenischen Familien und Gepäck und viele Fussgänger kommen vorbei. Rechts am Wege zwei grosse Zeltlager, zusammen etwa 600 Zelte, 6000 Personen. Beide Lager beim Aufpacken. Kinder, Frauen, Tote, Kranke, alles durcheinander. Dazwischen viel Unrat. Keine Latrinen. Einige Männer machen einen Rundgang, stossen jeden am Boden liegenden mit dem Fusse an, um zu sehen, ob schon tot. Die Aufbrechenden schleppen noch viel Hausgerät, Zelte, Decken usw. mit, während auf den entfernteren Strecken die Leute ihre Tiere und sich vorwiegend nur mit Lebensmittel bepacken.
13 Uhr: Ankunft in Abu Hureire. Am Euphrat. Armenier aus den Zeltlagern kommen mit Eimern und schöpfen Wasser am Euphrat. Ich gehe an den Fluss herunter und fische zwei Eisplatten aus dem Euphrat. Dies mag beweisen, welche Kälte hier in der Nacht geherrscht hat. Zwei junge Mädchen kommen mit zwei Eimern. Sie sind elegant gekleidet, tragen europäische dunkelblaue sogenannte Kostüme. Ihre Hände sind geschwollen und dunkelrot von der ungewohnten Arbeit im kalten Wasser. Drei Jungen von etwa 6, 5, 4 Jahren begleiten sie. Die Mädchen sprechen ausser türkisch etwas französisch, sind misstrauisch, geben nicht an, woher sie kommen. Sie scheinen schon einige Tage mit ihrer Familie hier kampiert zu haben und die Leiden des Weges vergessen zu haben. Ihre Lebensmittel hätten bis heute gereicht, aber sie seien wohlhabende Leute und Papa wolle auf der nächsten Station wieder für einige Tage einkaufen. Bis Hamam, das von 6000 Personen bereits leer gegessen ist und wo es nichts mehr giebt, sind es für Fussgänger und die im Schritt gehenden Ochsengespanne aber zwei Tagemärsche, und bis Sabha drei weitere Tage! Die nächste Station, in der "Papa einkaufen" kann, ist also für die Unglücklichen fünf Tagemärsche entfernt, und fünf Tage werden sie vielleicht hungern müssen! Ich habe noch 1 ½ Laib Brot. Erst als ich ihnen erkläre, dass es auf der nächsten Station nichts giebt, nehmen sie die Gabe an unter dem Vorbehalt, sie an andere verteilen zu wollen, wenn es doch für Geld etwas zu kaufen gebe und entfernen sich schnell mit kurzem Dank.
1 Uhr 52: Abfahrt von Abu Hureire.
2 Uhr 27: L: Leiche in weisses Tuch eingewickelt.
2 Uhr 30: L: 3 Leichen: 1 schon angefressen, 1 frisch, Oberkörper nackt, 1 schon verwesend.
2 Uhr 35: L: 1 Mann, mit Hemd und blauer Hose bekleidet, soeben gestorben. Zwei Mädchen sitzen weinend daneben.
2 Uhr 36: L: 1 Mädchen mit rotblondem Haar, schwarzer Bluse und grauer Hose, auf dem Bauch liegend.
2 Uhr 40: L: 1 verwesende Leiche. 1 Geier darauf sitzend.
2 Uhr 47: L: Leiche eines kleines Mädchens, von Raubzeug zerfetzt. Schwarzes Haar. Knochen der Beine liegen überall herum. Fleischstücke herausgerissen. Ein Geier kreist darüber.
2 Uhr 52: L: 1 Leiche in Tuch eingewickelt. Beine abgefressen.
2 Uhr 53: L: Ein Junge liegt sterbend auf seinem Packen. Die Beine bewegen sich noch im Krampfe. Neben ihm weidet ein Hund eine Leiche aus.
2 Uhr 55: L: Leiche eines noch vollständig gekleideten Knaben.
2 Uhr 58: L: 2 Menschenschädel und auseinander gerissene Skelettknochen.
2 Uhr 59: L: Leiche eines Mannes, mit weissem Hemde und schwarzer Hose bekleidet. Rock daneben.
3 Uhr 00: L: Ein dickgefressener herumstreifender Hund. Fetzen von Steppdecken und Kleidungstücken.
3 Uhr 01: R: 1 Greis. Wirbelsäule blosgelegt, Beine abgefressen.
3 Uhr 02: Mitten auf der Strasse eine Wirbelsäule und ein Menschenschädel.
3 Uhr 03: L: Frau mit braunen Hosen, frisch. Zerrissene Steppdecke.
3 Uhr 09: 1 Leiche. Kopf noch erhalten. Gesicht schwarz. Beine abgefressen. Bauch- und Brusthöhle geöffnet und ausgeweidet. Weisses Tuch um die Kinnbacken.
3 Uhr 13: L: Grosser weisser Hund, einer Leiche den Rock zerreissend und dann das Gesicht zerfleischend.
3 Uhr 15: R: Skelett mit noch erhaltenem Brustfell. Beine vom Knie ab weg. Becken blosgelegt. Von Oberschenkeln nur noch die Knochen vorhanden.
3 Uhr 24: L: 1 bekleideter Mann. 1 Frau, bekleidet, weisses Haar. Mitten auf dem Weg etwa 15-jähriges Mädchen, schöne Körperformen, liegt wie schlafend da, beim Weiterfahren sieht man aber, dass der rechte Arm fehlt, der aus dem noch blutigen Kugelgelenk herausgerissen ist.
3 Uhr 25: L: 2 Männer, bekleidet, Gesicht schwarz.
3 Uhr 30: L: 1 Frau in blauem Kleide, nackte Beine, schwarze Strümpfe, ganz frisch. R: grosser weisser Hund.
3 Uhr 34: R: Gebleichter Schädel und Knochen inmitten von Wäsche- und Kleiderfetzen.
3 Uhr 37: R: 1 Mann, bekleidet, ganz schwarz.
3 Uhr 43: R: 1 Kind mit rot und weiss gestreiften Hosen, zugedeckt mit einem braunen Männerrock. Halblinks ein dicker Hund.
3 Uhr 45: R: 6 grosse armenische Zeltlager, etwa 600 Zelte, 6000 Personen. Armenier tragen Gestrüppholz zusammen.
3 Uhr 53: R: 1 Leiche mit schwarzer Hose und gelbem Kittel, Gesicht schwarz.
3 Uhr 59: R: 1 Leiche, Gesicht schwarz, weisses Hemd, weisse Unterhosen.
4 Uhr 03: R: 1 Mann, barfuss, schwarzer Anzug, Rock in die Höhe gerissen.
4 Uhr 04: 1 Gerippe auf dem Wege dicht neben den Rädern des Wagens. Zähne und Fleischteile der unteren Gesichtshälfte noch erhalten. Gesichtsausdruck daher ein breites Grinsen über gefletschten Zähnen. Beängstigender Anblick. L: Auf einer kleinen Erhöhung, daher etwa in der Höhe der Augen des Reisenden, ein Kind weiblichen Geschlechts von etwa zwei Jahren, nur mit rotem Hemdchen bekleidet, das heraus gezogen ist. Blutender Schamteil entblösst und der Strasse zugekehrt.
4 Uhr 08: L: 1 Frau, gelbe Hose, schwarze Strümpfe.
4 Uhr 12: L: 1 kleiner Junge, weisse Hose. Schwarzes Gesicht, sonst ganz frisch.
4 Uhr 13: L: 1 kleiner Junge mit verschränkten Armen, schwarzer Anzug, weisse Strümpfe.
4 Uhr 23: L: 1 kleines Mädchen, karierte Hose, grauer Rock, braunes Haar.
4 Uhr 24: L: 1 junger Mann, ganz frisch, vollkommen angezogen. Aus Sackleinwand gefertigte Schuhe, Bänder um die Waden.
4 Uhr 37: L: 1 Leiche, in weisses Laken und schwarze Decke gehüllt. Kopf schwarz.
4 Uhr 50: R: 1 Frau, schwarze Hose, braune Jacke.
4 Uhr 55: L: 1 Frau mitten auf dem Wege, schwarze Jacke, schwarzes Haar, Hand über die Augen gelegt.
6 Uhr 10: Ankunft in Meskene. Vor Meskene grosses Zeltlager von über 2000 Zelten. Ueber 10000 Personen. Eine vollkommene Zeltstadt. Anscheinend gar keine Latrinen. Um den Ort und das Zeltlager ein breiter Gürtel von Menschenkot und Unrat, durch den auch mein Wagen eine Zeit lang fahren muss. Ich übernachte im Wagen, denn im Ort, der vollkommen verstopft, nirgends Unterkunft zu finden. Das einzige Zimmer auf der Gendarmeriewache ist mit 6 türkischen Militärärzten belegt, die aus Konstantinopel kommen und nach Bagdad reisen. Sie erzählen, auf dem Wege zwióchen Aleppo und Meskene lägen keine Toten. Ob sie über die Eindrücke, die sie von Meskene ab erhalten werden, nach Konstantinopel Bericht erstatten werden?