Antisemitismus
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Dieser Artikel befasst sich mit einer Unterform des allgemeinen Judenhasses. Eine Übersicht über die gesamte Thematik gibt der Artikel zu Judenhass.
Der Antisemitismus ist die moderne, seit dem 19. Jahrhundert verbreitete Form des Judenhasses, der seine generelle Abneigung gegen Juden, nicht mehr ausschließlich auf religiöse, sondern verstärkt auf rassistische Vorurteile stützt. Er richtet sich nicht nur gegen die Menschen, die der jüdischen Religionsgemeinschaft angehören, sondern auch gegen solche, die aufgrund ihrer Abstammung dem Judentum zugerechnet und von Antisemiten als Halb- oder Vierteljuden bezeichnet werden.
Wegen seiner von Vorturteilen geprägten Weltsicht gilt der Antisemitismus als Form der rassistischen Diskriminierung. Im wissenschaftlichen Diskurs der vergangenen Jahre wird der Begriff jedoch zunehmend als ein eigenständiges Phänomen behandelt.
Antisemiten versuchen ihre Vorurteile in der Regel mit sozialen, ökonomischen, nationalen, politischen, ethnischen und religiösen Argumenten zu legitimieren. So werden beispielsweise die - möglicherweise kritisierbaren - Handlungen einzelner Juden oder jüdischer Organisationen verallgemeinert und "den Juden" angelastet. Kennzeichnend für die hermetische Weltsicht radikaler Antisemiten ist, dass sie sich selbst durch ihre Gegner in ihren Vorurteilen bestätigt sehen - beweist ihnen ein "Anti-Antisemit" doch schon durch seine bloße Existenz, dass er dem "Einfluss der Juden" erlegen ist.
In der Bundesrepublik Deutschland können antisemitische Äußerungen nach dem Paragraph § 130 des Strafgesetzbuches als "Volksverhetzung" verfolgt werden.
Inhaltsverzeichnis [AnzeigenVerbergen]
1 Zum Begriff
1.1 Entstehung
1.2 Semiten
1.3 Unterschied zum Antijudaismus
1.4 Verbreitung
1.5 Inhaltsbestimmung
2 Antisemitismus und Nationalsozialismus
3 Literatur
4 Weblinks
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Zum Begriff
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Entstehung
Im Zuge der Bewegung gegen die Französische Revolution 1789 entstand der Nationalstaatliche Gedanke. Dabei wurde aus einem rein rechtlichen Status der Nation eine Nationalität gesehen, die sich aus völkischer Zugehörigkeit ableitet. Sehr schnell entstand daraus der Rassismus, der sich in Deutschland in einer nunmehr theoretisch untermauerten Ablehnung von Minderheiten aufgrund ihrer Volksgruppenzugehörigkeit ableitete. So wurde der rein religiös motivierte Antijudaismus, dem sich ein Jude wenigstens theoretisch durch die Taufe entziehen konnte, zum herkunftsbestimmten Antisemitismus, neben dem auch andere Minderheiten im Antiziganismus und Antisorabismus ausgegrenzt wurden.
Der Begriff Antisemitismus wird im allgemeinen Sprachgebrauch als Bezeichnung für Abneigung und Feindseligkeit gegenüber Juden verwandt. Er wurde erstmals in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von judenfeindlichen Gruppierungen in Deutschland verwandt. Zeitnah wurde der Begriff auch von anderen Kreisen und Sprachen übernommen.
Sprach- und sachlogische Voraussetzung der Wortbildung Antisemitismus ist die Entstehung und allgemeine Verbreitung des Begriffs Semitismus.
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Semiten
Der Begriff Semiten stammt aus der theologisch-historischen Literatur des späten 18. Jahrhundert. Er fand wenige Jahre nach Einbürgerung in die Sprachwissenschaft auch Eingang in die Völkerkunde. Dies, obwohl die semitische Sprachfamilie und die als Nachkommen Sems genannten Völker (Völkertafel in 1. Mose 10) keineswegs identisch sind. Überdies ist die Völkertafel im wesentlichen geographisch orientiert. Das Siedlungsgebiet der Nachkommen Sems reicht von Westanatolien bis Persien und von Armenien bis zum Roten Meer. Diese Völker bilden jedoch keine geschlossene Gruppe im Sinne der Völkerkunde. Auch aus diesem Grund kann der Begriff Semiten im Ergebnis nur begrenzt auf die semitische Sprachfamilie Anwendung finden.
Gleichzeitig mit dem Begriff Semiten wurde der ebenfalls den Sprachwissenschaften entstammende Begriff Arier in die allgemeine Terminologie der Geisteswissenschaften aufgenommen. „Semiten“ und „Arier“ wurden einander auch als Volksgruppen gegenüber gestellt. Verschiedenartigkeit wurde bald als Verschiedenwertigkeit verstanden. Zwar wurden „Arier“ und „Semiten“ gegenüber anderen Volksgruppen herausgehoben. Alle positiv verstandenen Werte wurden jedoch den „Ariern“ zugeschrieben, während die „Semiten“ lediglich negativ charakterisiert wurden. „Arier“ galten als zur Herrschaft über die Welt berufene Bevölkerungsgruppe. Unter Berufung auf Joseph Arthur de Gobineau wurden beide Bevölkerungsgruppen überdies als biologische Abstammungseinheit („Rasse“) bezeichnet.
Zunehmend häufiger wurde der Begriff Semit auch für Juden verwandt. Insbesondere völkisch-rassische Judengegner verwendeten nun den Begriff Semiten. Hierdurch sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die Judenfrage als Rassenfrage zu betrachten sei. Dieser neue Wortgebrauch blieb zunächst unreflektiert. 1879 erklärte jedoch der jüdische Historiker Harry Breßlau, dass die Begriffe Jude und Semit nicht deckungsgleich seien und er den Begriff Semit daher auch nicht in diesem Sinne verwenden wolle. Stattdessen werde er weiterhin den Begriff Jude verwenden; dies jedoch lediglich als Bezeichnung der Abkunft und nicht der Religionszugehörigkeit von Juden: „Um jedes Missverständnis auszuschließen, bemerke ich, dass ich diejenigen im Sinne dieser Erörterungen als Juden betrachte, deren beide Eltern als Juden geboren sind.“ Im Brockhaus des Jahres 1895 wurde „Semitismus“ als „eine Bezeichnung für das ausschließlich vom ethnologischen Standpunkt aus betrachtete Judentum“ definiert. Die säkularisierten Begriffe Jude und Judentum, ihrer religiösen Bedeutung entledigt, erfuhren somit eine sprachliche Gleichsetzung mit den Begriffen Semit und Semitismus.
In der Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und den Umbrüchen bei der Bildung einer bürgerlich-liberalen Gesellschaft wurden die beiden Bezeichnungen häufig auch im Zusammenhang mit dem vermeintlichen Mangel an „wahrem Deutschtum“ im Reich von 1871 verwandt. Insbesondere der Begriff Semitismus wurde Ausdruck einer Fundamentalkritik an den Prinzipien und Erscheinungsformen der modernen liberalen Gesellschaft.
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Unterschied zum Antijudaismus
Der Ausdruck Antijudaismus wurde eingeführt, um zwischen dem nationalistischem Antisemitismus und weiter zurück reichenden, religiösen Judenhass zu unterscheiden. Die Religionszugehörigkeit spielt für einen Antisemiten nur eine indirekte Rolle, da er Jude über die Abstammung von Vorfahren mit jüdischer Religion definiert und so Jude zu einem unentrinnbaren pseudobiologischen Merkmal wird. Anders dagegen in einem Teil des christlichen Antijudaismus, hier kann der Übertritt eines Juden zum Christentum diesen in einen Christen verwandeln, wobei häufig Vorbehalte besonders bei Zwangstaufen bestanden.
Sowohl Antisemitismus als auch Antijudaismus bezeichnen Hass auf Juden. Ersterer ist viel geläufiger und wird umgangsprachlich fälschlich mit Antijudaismus synonym verwendet.
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Verbreitung
Das Wort antisemitisch ist bereits 1865 im Rotteck/Welckerschen Staatslexikon zu finden, wo das Königtum unter den Juden als eine „antisemitische Geburt“ bezeichnet wurde. Es handelte sich jedoch um eine eher zufällige und folgenlos gebliebene Formulierung, die der im selben Jahr im Staatswörterbuch von Bluntschli/Brater zu findenden Formulierung „unsemitisch“ entspricht. Bereits 1860 hatte der jüdische Gelehrte Moritz Steinschneider den französischen Historiker und Philologen Ernest Renan wegen seiner „antisemitischen Vorurteile“ zur Rede gestellt. Der erste publizistische Beleg für die Neubildung des Wortes Antisemitismus findet sich in der „Allgemeinen Zeitung des deutschen Judentums“ vom 2. September 1879, in der die Ankündigung eines „antisemitischen Wochenblatts“ durch Wilhelm Marr erwähnt wurde.
Marr, der seither in der Forschungsliteratur als Schöpfer des Begriffs Antisemitismus angeführt wird, hatte hingegen „nur“ eine sozialpolitische beziehungsweise antijüdische Wochenschrift angekündigt, nicht eine „antisemitische“. Der Austausch der Bezeichnungen erfolgte durch die Zeitungsredaktion. Anzunehmen ist, dass das Modewort dieser Zeit viele Väter hat und die Wortkombination aus „Anti“ und dem verbreiteten Wort Semitismus nicht allzu fern lag. Marr selbst benutzte den Begriff antisemitisch erst ab 1880. Der Begriff wurde von ihm weder definiert noch kommentiert, eine programmatische Einführung fehlt ebenfalls.
Ende September 1879 rief Marr zur Gründung der „Antisemiten-Liga“ auf. Der Name suggerierte eine Sammlungsbewegung gegen „Semiten“. Die Parteigründung hat sicherlich zur Popularität des Terminus Antisemitismus beigetragen, da dieser von nun an in zahllosen Pamphleten verwendet wurde. Aber auch die „Antisemiten-Petition“ von 1880/81, die von 250.000 Bürgern unterzeichnet wurde und Standardforderungen der antisemitischen Propaganda enthielt, so beispielsweise die Forderung nach Ausschluss der Juden von öffentlichen Ämtern , half das Schlagwort Antisemitismus im ganzen Deutschen Reich zu verbreiten.
Ab 1881 wurde es als Sammelbegriff aller Arten und Ausprägungen judenfeindlicher politischer Haltungen und Handlungen verwendet, die zum "Berliner Antisemitismusstreit" führten. Zu dessen Protagonisten gehörte der konservative, preußische Historiker Heinrich von Treitschke, der den verhängnisvollen, später von den Nationalsozialisten übernommenen Satz prägte: "Die Juden sind unser Unglück." Ihm trat insbesondere der Historiker Theodor Mommsen entgegen, der sich scharf gegen die Judenfeindschaft wandte.
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Inhaltsbestimmung
Definition und Funktion des Begriffs Antisemitismus sind heute in der Wissenschaft heftig umstritten. Eine eindeutige Inhaltsbestimmung hat bislang nicht stattgefunden. Teilweise werden die Begriffe Antisemitismus, Antijudaismus und Judenfeindschaft wechselseitig verwendet. Andere Autoren subsumieren ohne zeitliche Differenzierung unter den Begriff Antisemitismus alle negativen Impulse gegen Juden, gelegentlich auch unter Verwendung von Attributen wie vormodern, religiös oder rassisch.
Nach Wolfgang Benz bedeutet Antisemitismus heute „die Gesamtheit judenfeindlicher Äußerungen, Tendenzen, Ressentiments, Haltungen und Handlungen unabhängig von ihren religiösen, rassistischen, sozialen oder sonstigen Motiven“. Antisemitismus werde „als ein gesellschaftliches Phänomen verstanden, das als Paradigma für Bildung von Vorurteilen und politische Instrumentalisierung daraus konstruierter Feindbilder dient.“
Da der Begriff Antisemitismus grundsätzlich die Existenz einer mit den Juden identischen semitischen Rasse suggeriert, sollte er lediglich für die Periode verwandt werden, in der die Bewegung, die sich selbst so bezeichnete, entstanden ist und sich entfaltete. Alle anderen judenfeindlichen Entwicklungen und Ereignisse sollten mit den hierfür durchaus vorhandenen spezifischen Begrifflichkeiten, die überdies den semantischen Bezug auf „Semitismus“, der auch Nichtjuden umfasst, vermeiden, bezeichnet werden.
Aktuelle „antisemitische“ Äußerungen, Handlungen und Entwicklungen sollten heute als das bezeichnet werden, was sie tatsächlich sind: Angriffe gegen jüdische Mitmenschen und damit judenfeindliche Akte.
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Antisemitismus und Nationalsozialismus
Zum Ende des 19. Jahrhunderts belegte der Begriff Antisemitismus vor allen Dingen eine parteipolitisch orientierte Zielsetzung gegen einen vermeintlich übergroßen jüdischen Einfluss. Mit dem Aufkommen von darwinistischen Argumentationsketten gab sich der Antisemitismus im Gefolge von rassistschen Evolutionstheorien eine zunehmend biologistische Ausrichtung. Es war fortan nicht mehr die Rede von gesellschaftlichen Einflüssen des verhassten Judentums, sondern von der „Zersetzungskraft jüdischen Blutes“.
1924 verfasste Adolf Hitler in der Festungshaft sein autobiografisches und programmatisches Buch Mein Kampf, in welchem er sich freimütig zum Antisemitismus bekennt (Hitler selber bezeichnet sich als Schüler des Wiener Bürgermeisters und antisemitischen Publizisten Karl Lueger) und eine Strategie entwickelt, den Antisemitismus politisch und militärisch mit dem Ziel der Vernichtung der Juden durchzusetzen. Dieser ist konstituierendes Element der Ideologie des Nationalsozialismus.
Die Nationalsozialisten gaben dem Antisemitismus unter ihrem Regime eine zuvor nicht vorhandene Virulenz, die über die Nürnberger Gesetze bis zur Planung und Durchführung der so genannten Endlösung der Judenfrage führte. Diese industriell organisierte Vernichtung des europäischen Judentums, die Shoa (Holocaust), forderte über 6 Millionen Opfer.
Keine praktische Bedeutung in Bezug auf die Intensität der antisemitischen Durchdringung nationalsozialistischer Ideologie und Politik hatte die im Mai 1943 dekretierte Abwendung vom Begriff Antisemitismus. Die durch den Nazi-Ideologen Rosenberg initiierte neue offizielle Sprachregelung zielte darauf ab, neugewonnenen arabischen Verbündeten gegenüber nicht den Eindruck zu erwecken, man „werfe Araber mit den Juden in einen Topf“. [1] (
[Links nur für registrierte Nutzer]) Durch die nunmehr ausbleibende antisemitische Selbstbezeichnung der Nazis erfuhren die verfolgten Juden allerdings keinerlei Linderung. Aus der Sicht der Nachwelt steht das deutsche Nazi-Regime - auch bei taktischer Meidung der expliziten antisemitischen Selbstbenennung ab 1943 - für den unvermindert mörderischsten Antisemitismus der Zivilisationsgeschichte.
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Literatur
* Bein, Alex: Die Judenfrage. Biographie eines Weltproblems, 2 Bände, Stuttgart 1980.
* Benz,Wolfgang: Antisemitismusforschung als Vorurteilsforschung, in: Wolfgang Benz /Angelika Königseder (Hrsg.), Judenfeindschaft als Paradigma: Studien zur Vorurteilsforschung, Berlin 2002.
* Bergmann, Werner: Geschichte des Antisemitismus, München 2002.
* Breßlau,Harry: Zur Judenfrage. Sendschreiben an Herrn Professor Dr. Heinrich von Treitschke, in: Walter Boehlich (Hrsg.), Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965.
* Greive, Hermann: Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, Darmstadt 1983.
* Hitzig,Ferdinand: Art. Semitische Völker und semitisches Recht, Bluntschli / Brater, Band. 9 (1865.
* Ley,Michael: Kleine Geschichte des Antisemitismus, München 2003.
* Nipperdey, Thomas / Rürup, Reinhard: Antisemitismus, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 1, Stuttgart 1972.
* Pulzer, Peter G. J.: Die Entstehung des politischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich 1867-1914,Gütersloh 1966.
* Weil,Gustav: Art. Semitische Völker, Rotteck/Welcker, 3. Aufl., Band. 13 (1865).
* Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus - Ein theoretischer Versuch. In: Diner, Dan (Hrsg.): Zivilisationsbruch : Denken nach Auschwitz. Frankfurt am Main, 1988, S.242-254.
* Abraham Leon: Die jüdische Frage. Eine marxistische Darstellung. Essen, 1995
* Michael Buckmiller (Hg.): Judentum und politische Existenz: siebzehn Portraits deutsch-jüdischer Intellektueller. Hannover, 2000.
* Joachim Perels: Antisemitismus in der Justiz nach 1945?. In: "Beseitigung des jüdischen Einflusses ..." / Fritz-Bauer-Institut (Hg.) - Frankfurt [u.a.]. - S. 241 - 252. - (Jahrbuch ... zur Geschichte und Wirkung des Holocaust ; 1998/99
* Jean Paul Sartre: Überlegungen zur Judenfrage (1944). Reinbek bei Hamburg, 1994.
* Klaus Hödl: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle. Wien, 1997.
* S. Jäger/M. Jäger: Medienbild Israel. Zwischen Solidarität und Antisemitismus. LIT-Verlag. Münster-Hamburg-London, 2003.
ANTISEMITICA
* Marr,Wilhelm: Der Judenkrieg, seine Fehler und wie er zu organisieren ist. Antisemitische Hefte 1, Chemnitz 1880.
* Adolf Hitler: Mein Kampf, 1925/26