Zitat von
opus111
Hi der Neue.
Aus Zeitgründen kann ich jetzt nicht auf alle Deine Punkte eingehen. Gewiss ist Deine „Richtigstellung“ eine Richtigstellung nach den klassischen Lehrbüchern, die ich auch mal vor 20 Jahren gelesen habe. Ich zitiere: „Man kann es auch so veranschaulichen: ein Großteil des Kaufkraftverlustes, den Lohn-und Sozialkürzungen mit sich gebracht haben, wird durch den Verfall der Preise (z.B. Lebensmitteldiscounter wie Aldi) wieder ausgeglichen. Diese gegenläufige Tendenz schafft also zur gleichen Zeit wieder mehr Kaufkraft.“
Was hier oft übersehen wird, ist der simple Umstand, dass diese im übrigen bereits für „de Say“ typische Gleichung aus dem 19. Jahrhundert aus ganz banalen Gründen nicht stimmt, die eher mit dem wirklichen Leben zusammenhängen: Und zwar einfach mit der Tatsache, dass es zwischen den Ereignissen keine direkten zeitlichen Abhängigkeiten gibt (das war das schöne Credo der Ökonomie des 19. Jahrhunderts), sondern dass die deflationären Tendenzen die vermeintlichen Vorteile über einen längeren Zeitraum überwiegen. Das Sinken von Preisen erfolgt dabei keineswegs linear zu den Einkommeneinbußen. De Say hatte im 19. Jahrhundert – überzeugt von der automatischen Ausbalancierung – das Gegenteil angenommen, aber die Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts hat dies längst widerlegt. Folge: Zwar folgt aus Deflation per Definition ein theoretischer Kaufkraftzuwachs, aus Inflation das Gegenteil. Aber weder das eine noch andere repräsentieren das tatsächliche Marktgeschehen. Bevor die Preise überhaupt sinken können, müssen a.) Rationalisierungen erfolgen, b.) Löhne und Kosten gedrückt werden. Folge: Ein immer größerer Teil der Bevölkerung wird sich immer weniger leisten können. Folge: Die Preise können überhaupt nicht so schnell fallen, dass es zu einem Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage käme. Folge: Noch mehr Arbeitslosigkeit und soziale Verwerfungen. Natürlich ist es interessant jetzt zu betrachten, was mit der Geldmenge geschieht, denn die bleibt theoretisch ja die gleiche: die theoretische Kaufkraftgleichung weist in Richtung auf Kaufkraftgewinn, aber witzigerweise gerade dann, wenn praktisch niemand mehr kauft. (Bei wem das Geld unproduktiv verbleibt, darf jeder raten).
Ebenfalls ist eine längst widerlegte Theorie, dass eine Art von Verarmung breiter Bevölkerungsschichten Produzenten dazu veranlassen könnte, mehr zu produzieren. Auch eine These des 19. Jahrhunderts.
Ja, Du hast recht, mein Vergleich einheimischer mit polnischer Kaufkraft ist nach klassischem Lehrbuch definitiv falsch. Genauso falsch ist jedoch die Annahme, dass Einschränkungen der privaten Haushalte auf mittelfristige Sicht zu einer höheren Produktivität führen. Auch hierzu ein einfaches Beispiel:
Ein Produzent hat 3 Angestellte: Um konkurrenzfähig zu bleiben, setzt er den ersten vor die Tür. Der Lohn des 2. Angestellten wird um 20 Prozent reduziert. Der dritte Angestellte darf, da ein Angestellter weniger arbeitet, 20 Prozent länger arbeiten. Vorher hatten jeder der drei ein Einkommen von je 100.000 Einheiten: Summe 300.000. Die neue Summe beträgt: 0 + 80000 + 100000, also 180.000.
In der Theorie müssten sich jetzt die Preise der produzierten Ware erheblich reduzieren (um dies exakt zu berechnen, müsste das Beispiel sehr viel komplizierter ausgebaut werden). Sie werden sich jedoch zunächst nur um den Grad vermindern, der mit den Konkurrenzpreisen korreliert: d.h. der Produzent wird zwar einen Teil der Kostensenkungen und ggf. Produktivitätssteigerungen zu Preissenkungen verwenden. Aber da er zugleich daran interessiert ist, einen maximalen Profit zu erwirtschaften, wird er zunächst lediglich Konkurrenten unterbieten. Da die Konkurrenten etwas Ähnliches tun werden, setzt sich diese Spirale weiter in unerwünschte Richtungen fort. Theoretisch steigt dann zwar die gesamtökomische Kaufkraft, dennoch wird nicht mehr, sondern immer weniger gekauft.
Gegenargument: „Da der Produzent bei Deflation mit steigender Kaufkraft rechnet, wird er mehr produzieren und dazu neue Angestellte einstellen.“ Dies ist ein Irrtum, den bereits der gute alte Keynes kritisiert hat (auch wenn es unschicklich geworden ist, mit Keynes zu argumentieren). Im Gegenteil weiß der Produzent wie jeder normale Bürger, dass die Leute immer weniger Geld in ihrem Portemonnaie haben. Er wird also austarieren, ob es sich lohnt, die Preise noch weiter zu senken, mehr zu produzieren und zu verkaufen, oder ob es für ihn einfach lohnender ist, mit etwas reduzierten Preisen und weniger Kosten eine Gewinnoptimierung zu erreichen. Oft wird er erst dann die Produktion ankurbeln, wenn er nicht nur von der theoretischen Kaufkraft überzeugt ist, sondern davon, dass die Käufer auch tatsächlich das Geld haben, zu kaufen. Und zwischen beidem – nämlich der theoretischen ökonomischen Kaufkraft – und den tatsächlich für Käufe zu Verfügung stehenden Einkommen der Nachfrager klafft ein beträchtlicher Unterschied.
Das Keynesche Modell wird bis heute immer wieder von den neoliberalistischen Wirtschaftsgurus völlig zurecht damit kritisiert, dass die Marktprotagonisten die staatlichen Wohltaten in ihren Entscheidungen gedanklich vorwegnehmen und damit unbrauchbar machen: Produziert wird erst, wenn der Staat zahlt – simpel gesprochen. Dabei übersehen die Neoliberalisten nur allzu gerne, dass das Gleiche auch auf Ihre Annahmen bezogen werden kann. Die Wirtschaftssubjekte nehmen die Konsequenzen auch gedanklich vorweg: Sie sparen mehr, geben weniger aus. Die Produzenten passen ihre Preise nicht in gleicher Geschwindigkeit an, weil sie sich ebenfalls nicht auf den Segen der Deflation verlassen. Ob ein solches System dann irgendwann in ein Gleichgewicht kommt, ist für die meisten Menschen – d.h. für ihre realen Lebensbedingungen - eine müßige Frage.
Noch eine Randbemerkung zu Japan: Vielleicht verfügst Du über bessere Informationen als ich, aber ich lese gerade in letzter Zeit immer wieder in der Wirtschaftspresse etwas über die Probleme der japanischen Deflation.