Zitat von
Wikipedia
Judenpogrome zur Zeit der Pest [Bearbeiten]
Die kirchliche und weltliche Macht verlor angesichts der Hilflosigkeit, mit der sie der Pestepidemie begegnete, rapide an Autorität. Der Dichter Boccaccio vermerkte in seinem Decamerone:
In solchem Jammer und in solcher Betrübnis der Stadt war auch das ehrwürdige Ansehen der göttlichen und menschlichen Gesetze fast gesunken und zerstört; denn ihre Diener und Vollstrecker waren gleich den übrigen Einwohnern alle krank oder tot oder hatten so wenig Gehilfen behalten, dass sie keine Amtshandlungen mehr vornehmen konnten. Darum konnte sich jeder erlauben, was er immer wollte.
Unter dem Autoritätsverlust der weltlichen und kirchlichen Macht litten diejenigen Menschen am meisten, die zu den kulturellen Randbereichen der mittelalterlichen Gesellschaften zählten. So kam es im Zuge der Pestepidemien zu schweren Judenpogromen, die von den geistlichen und weltlichen Herrschern nicht mehr unterbunden werden konnten.
Die Pogrome brachen aus, da das aufgebrachte Volk in den Juden die Schuldigen für die Katastrophe auszumachen glaubten. Die Autoritäten versuchten, dem entgegenzutreten. Bereits 1348 bezeichnete der in Avignon lebende Papst Klemens VI. die Anschuldigung, die Juden würden durch das Vergiften von Brunnen die Pest verbreiten, als „unvorstellbar“, da sie in Gegenden der Erde wüte, wo keine Juden lebten, und dort, wo sie lebten, sie selbst Opfer der Seuche würden. Er forderte die Geistlichkeit auf, die Juden unter ihren Schutz zu stellen. Klemens VI. – der selbst hebräische Manuskripte sammelte – untersagte außerdem, Juden ohne Gerichtsverfahren zu töten oder sie auszuplündern. Die päpstlichen Bullen wirkten nur in Avignon und trugen ansonsten verhältnismäßig wenig zum Schutz der Juden bei. Dies gilt auch für Königin Johanna I. von Neapel, die im Mai 1348 die Steuerlast der in ihrem provenzalischen Herrschaftsgebiet lebenden Juden um die Hälfte reduzierte, um den Plünderungen Rechnung zu tragen. Im Juni desselben Jahres wurden ihre Beamten aus den provenzalischen Städten vertrieben, was die Schutzlosigkeit der Juden aufgrund des fortschreitenden Autoritätsverlust der Herrschenden illustriert.
Das Gerücht, Juden träufelten Gift in Brunnen und Quellen, war bereits Anfang 1348 aufgekommen: In Savoyen hatten jüdische Angeklagte sich unter der Folter solcher Vergehen für schuldig bekannt. Ihr Geständnis fand in ganz Europa rasch Verbreitung und war die Basis für eine Welle von Übergriffen in der Schweiz und in Deutschland - vor allem im Elsass und entlang des Rheins (bis dahin Hauptwohngebiete der Juden in Deutschland). Am 9. Januar 1349 wurde in Basel ein Teil der jüdischen Einwohnerschaft ermordet – die Basler Stadträte hatten zuvor zwar die schlimmsten Hetzer aus der Stadt verbannt, mussten unter dem Drängen der Stadtbevölkerung diesen Bann jedoch wieder aufheben und stattdessen die Juden vertreiben. Ein Teil der Vertriebenen wurde festgesetzt und in einem eigens für sie gebauten Haus auf einer Rheininsel verbrannt. In Straßburg versuchte die Stadtregierung gleichfalls, die ansässigen Juden zu schützen, wurde jedoch mit den Stimmen der Zünfte ihres Amtes enthoben. Die neue Straßburger Stadtregierung duldete das anschließende Massaker, dem im Februar 1349 – also zu einem Zeitpunkt zu dem die Pest die Stadt noch nicht erreicht hatte – 900 von 1.884 in Straßburg lebende Juden zum Opfer fielen.
Eine maßgebliche Rolle in den Judenpogromen sollen die Flagellanten gespielt haben. Für Städte wie Freiburg im Breisgau, Köln, Augsburg, Nürnberg, Königsberg und Regensburg wurde angenommen, dass noch vor dem eigentlichen Ausbruch der Pest Flagellanten Teile der Bevölkerung aufhetzten, die jüdische Bevölkerung als Brunnenvergifter zu ermorden. Die neuere Forschung geht jedoch davon aus, dass das Abwälzen der Schuld auf die Geißler zumeist lediglich als „bequemer Rechtfertigungsversuch“ (Haverkamp) der Geschichtsschreibung des 14. Jahrhunderts zu werten ist. Zudem ist in diesem Zusammenhang zu konstatieren, dass in fast allen Städten die Pogrome nicht nur dem Erscheinen der Geißler, sondern auch dem Auftreten der Pest vorangegangen sind (Hoeniger).
Im März 1349 verbrannten sich vierhundert Mitglieder der jüdischen Gemeinde von Worms in ihren Häusern, um nicht den Mordbrennern in die Hände zu fallen; im Juli 1349 beging auch die jüdische Gemeinde von Frankfurt auf diese Weise Selbstmord. In Mainz griffen Juden zur Selbstverteidigung und töteten 200 sie angreifende Stadtbürger. Selbst die in Mainz lebende jüdische Gemeinde – damals die größte in Europa – beging letztlich Selbstmord durch Anzünden der eigenen Häuser. Die Pogrome setzten sich bis Ende des Jahres 1349 fort. Die letzten fanden in Antwerpen und Brüssel statt. Nach Ende der Pest lebten nur noch wenige Juden in Deutschland und den Niederlanden.
Ein Drittel der 2,5 Millionen in Europa lebenden Juden waren im heutigen Spanien ansässig. Ihnen erging es leidlich besser als ihren Glaubensbrüdern in den Niederlanden und Deutschland. König Peter IV. von Aragon gelang es mit der Unterstützung der wohlhabenderen Bürger, gegen die ersten gewalttätigen Ausschreitungen in Barcelona vorzugehen und weitere Plünderungen und Übergriffe auf jüdisches Leben zu unterbinden.
Ebenso wie Peter IV. von Aragon waren auch Albrecht II. von Österreich und Kasimir III. von Polen entschiedene Beschützer ihrer jüdischen Einwohner. Wenn sie auch Gewalttaten nicht gänzlich unterbinden konnten, blieben solche Massaker wie in Brüssel und Basel aus. Kasimir III. bot darüber hinaus den Juden an, sich in seinem Herrschaftsgebiet anzusiedeln. Es setzte eine Emigration vor allem von deutschen Juden nach Polen ein, die bis ins 16. Jahrhundert anhielt. In der Ansiedlung jüdischer Bürger sah Kasimir III. die Möglichkeit, die Zahl der durch die Mongolenraubzüge dezimierten Bevölkerung zu erhöhen und damit sein Land wirtschaftlich weiterzuentwickeln.
Auch Kaiser Karl IV. versuchte, wenigstens in seinem engeren Herrschaftsgebiet die Juden vor Übergriffen zu beschützen. Er hieß sie zudem offiziell in seinen Ländereien willkommen. In der 1356 erlassenen Goldenen Bulle übertrug der Kaiser den Kurfürsten das Judenregal und verpflichtete sie unter anderem dazu, für den Schutz der jüdischen Bevölkerung zu sorgen. Allerdings hatte Karl IV. bereits 1349 – kein Jahr nach den Ausschreitungen – Amnestien für viele deutsche Städte (etwa Esslingen, Reutlingen, Überlingen und Straßburg) erlassen. Dadurch wurde die Bereicherung an Besitztümern vertriebener Juden unter Straffreiheit gestellt. In anderen Fällen hatte sich der Kaiser die Teilhabe am Besitz von Juden für den Fall gesichert, dass diese demnächst zu Tode kämen – was eine unverhohlene Umschreibung für gezielte Mordkampagnen war.
Neben der Suche nach einem Sündenbock und einer seit dem 12. Jahrhundert angestiegenen Intoleranz der Kirche gegenüber Andersgläubigen war auch Habgier ein wesentliches Motiv für den Mord an jüdischen Mitbürgern. Die Bedeutung der Juden als Geldverleiher war zwar nicht mehr so groß wie noch im 12. und 13. Jahrhundert, doch offenbar sah ein großer Teil der Bevölkerung im Mord an den Juden auch die Möglichkeit, sich ihrer Gläubiger zu entledigen. So war der Augsburger Bürgermeister Heinrich Portner bei jüdischen Geldleihern hoch verschuldet und ließ den Mord an den Juden bereitwillig geschehen.