Deutschland verteilt Bildungschancen unbeirrt nach sozialer Herkunft, Einwandererkinder werden früh abgehängt. Nun plädiert der Soziologe Lord Ralf Dahrendorf für eine Mindestquote von Studenten aus bildungsfernen Schichten - wie bei der "affirmative action", in den USA höchst umstritten.
Ein ganz normaler Skandal im bundesdeutschen Bildungsalltag: Erkan, neun Jahre alt, Grundschüler in Neunkirchen am Brand bei Nürnberg. Seine Noten werden plötzlich schlechter, die Lehrerin zweifelt. Ist Erkan dumm? Nein, findet sein Vater heraus, dem Kleinen fehlt eine Brille. Das ist alles. Hätte Ömer Sanlioglu das Lehrerinnenurteil nicht hinterfragt, wer weiß, vielleicht wären Erkans Chancen auf einen Übertritt ins Gymnasium schon verspielt. Erkan hat Glück gehabt. Ömer Sanlioglu, sein Vater, ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Erkan ist also ein Akademikerkind und damit hat er - statistisch gesehen - in Deutschland alle Chancen, bis zur Universität vorzudringen.
So lächerlich das klingt, so ernüchternd sind die Zahlen. 83 von 100 Akademikerkindern schreiben sich in Deutschland an einer Hochschule ein, aus Familien ohne akademische Tradition tun das nur 23 von 100 Kindern. Als der Präsident des Deutschen Studentenwerks, Rolf Dobischat, die Zahlen im Frühsommer dieses Jahres veröffentlichte, geißelte er den Befund als "beschämend für eine Demokratie" und appellierte beherzt: "Wir müssen endlich die soziale Selektivität des deutschen Bildungs- und Hochschulsystems überwinden."
Widerspruch gab es keinen, Bildungsdeutschland senkte den Kopf, diagnostizierte "Handlungsbedarf" und feiert seitdem lautstark jede Initiative zur Förderung von Migranten und ihren Kindern, also der sozialen Gruppe, die nach Erkenntnissen der Bildungs und Migrationsforschung an Hochschulen besonders stark unterrepräsentiert ist.
Bildungsdeutschland senkt den Kopf
Anfang August zog Niedersachsens Wissenschaftsminister Lutz Stratmann zum Beispiel prompt eine erste Bilanz des Studiengangs "Interkulturelle Bildung und Beratung" (mehr...), der ein Jahr zuvor im interdisziplinären Zentrum für Bildung und Kommunikation der Universität Oldenburg aufgelegt worden war. Grund für das ministerielle Interesse an dem Mini-Jubiläum: Das Lehrangebot richtet sich an Zuwanderer. Weil sie nach jahrzehntelanger Vernachlässigung - nun als "Potenzial" gepriesen werden, das es dringend zu integrieren gilt, bescheinigte Stratmann seinem Bundesland vollmundig: "Niedersachsen kann stolz darauf sein, eine bildungspolitische und ökonomische Vorreiterrolle bei der Integration von Zuwanderern eingenommen zu haben." Der Stolz gründet sich, wohl bemerkt, auf einen weiterbildenden Bachelorstudiengang.
Was ist geschehen? Europa begeht 2007 das "Jahr der Chancengleichheit", und Deutschlands Integrationsdefizite in Sachen Bildung und Hochschule sind unübersehbar. Jüngste Befragungen des Eurobarometers zum Thema "Diskriminierung in der Europäischen Union" zeigen: Fast jeder zweite Deutsche (48 Prozent) hält Diskriminierung aus Gründen der Herkunft in Deutschland für weit verbreitet. Bei der Bekämpfung des Missstands messen 46 Prozent der Befragten Schulen und Universitäten eine wichtige Rolle bei. Damit landeten die Bildungseinrichtungen auf Platz eins der Akteure, knapp vor den Eltern (45 Prozent) und weit vor dem Bundestag (13 Prozent) oder den Nichtregierungsorganisationen und Verbänden, die mit acht Prozent das Schlusslicht bilden.
Das Vertrauen der Deutschen in ihr Bildungssystem lässt sich anscheinend nicht erschüttern. Dabei gerät eben dieses System wegen seiner sozialen Selektivität regelmäßig in Misskredit. Dass das Herkunftsprinzip selbst dort sticht, wo Qualität Trumpf sein sollte, in Hochschulen nämlich, prangern Experten aus dem In- und Ausland seit Jahrzehnten an. Mit erstaunlicher Erfolglosigkeit.
Besinnung auf alte Antworten
Der Soziologe Prof. Dr. Ralf Dahrendorf etwa kämpfte schon in den 60er-Jahren für "Bildung als Bürgerrecht". Mädchen, Landkinder und Katholiken befanden sich damals außerhalb des Bildungsradars. "Ein Hauptgrund für deren Benachteiligung war die innere Distanz von den Insitutionen der tertiären Bildung. Universitäten waren einfach nicht Teil der Lebenswelt vieler Familien. Um das zu ändern, waren aktive Programme nötig. 'Student aufs Land' zum Beispiel war die Ermutigung Benachteiligter durch Studierende. Ähnlich wirkte die Werbung an den Hauptschulen", erklärt Dahrendorf.
Das katholische Mädchen vom Lande ist heute zwar das Migrantenkind geworden - die Antworten aber könnten laut Dahrendorf die alten sein. Damit befindet sich die Ikone der Soziologie auf Linie. Spätestens seit dem Integrationsgipfel in diesem Sommer ist es hochschulpolitischer Mainstream, nach dem Ausbau von Betreuungsangeboten für Studierende mit Migrationshintergrund zu streben, Sprachförderprogramme einzuführen und die Migrations- und Integrationsforschung zu forcieren.
Soll das alles sein? Ralf Dahrendorf meint, nein. Zu den Antworten auf die Bildungsbenachteiligung gehört für den deutsch-britischen Professor "auch, nicht: nur! - 'affirmative action' (mehr...), also eine Quote für Kinder der betroffenen Kategorien an den Hochschulen". Dabei sei "allerdings wichtig, dass solche Maßnahmen nur für eine begrenzte Periode eingeführt werden. Es handelt sich um die Bekämpfung von Anomalien durch nicht normale Programme."
Aufstieg im Alleingang
Diese "Anomalien" sind unübersehbar: Nur acht Prozent der Studierenden sind Migrantenkinder, obwohl rund ein Fünftel der Bevölkerung und ein Viertel der Kinder und Jugendlichen unter 25 Jahren einen Migrationshintergrund aufweisen und damit zu den "bildungsfernen Schichten" gehören.
Was das praktisch bedeutet, weiß der Vater des Grundschülers Erkan, Dr. Ömer Sanlioglu: "Mein Vater kam 1970 als Gastarbeiter aus der Türkei nach Deutschland. Er war drei Jahre in der Schule, und meine Mutter kann weder lesen noch schreiben. Die konnten mir nicht helfen. Sie wissen bis heute nicht genau, was ich mache." Aber natürlich registrieren sie, dass ihr Sohn während der Woche von Frau und Kind getrennt lebt und fern von Nürnberg an der türkischen Universität Nevsehir Karriere macht. Dort avancierte Sanlioglu in kurzer Zeit vom Assistenzprofessor zum Dekan und sorgt etwa mit internationalen Kooperationen für Furore. Zehn Studenten hat er schon mit Erasmus nach Deutschland geschickt, ein Novum in Nevsehir.
Ömer Sanioglu ist heute 38 Jahre alt und hat eine Bildungskarriere hingelegt, die nur wenigen Einwanderern in Deutschland gelingt. Der Aufstieg gelang ihm - und das ist typisch für Kinder aus Gastarbeiterfamilien - im Alleingang. Da war keiner, der den aufstrebenden Geist, wenn schon nicht fördern, so doch wenigstens ermuntern konnte. Mit Ausnahme von Prof. Dr. Sefik Bahadir, Sanioglus Doktorvater.
Der Inhaber des Lehrstuhls für Gegenwartsbezogene Orientforschung an der Universität Erlangen hat offensichtlich ein gutes Händchen für die Nachwuchsförderung. Als er erfuhr, dass sein Doktorand samt Frau und Säugling noch in der Wohnung seiner Eltern und seiner Schwester lebt, beschaffte er ihm an der Uni einen Schreibtisch, wo sich in Ruhe forschen ließ. Die Geste wird Sanlioglu seinem Doktorvater nie vergessen. Dabei gehört derlei zu den kleineren Mühen eines Professors mit Sinn für Nachwuchsförderung: "Promovenden mit Migrationshintergrund sind anstrengender als andere, weil sie die Sprache nicht so gut beherrschen", sagt Bahadir.
Anders als in den Ingenieur- und den Naturwissenschaften zählten in den Geistes und Sozialwissenschaften geschliffene Formulierungen. Sie zu finden, fällt Zuwandererkindern oft auch dann schwer, wenn sie ihr Leben in Deutschland verbrachten. Das erhöht den Betreuungsaufwand für Professoren. Die Folge: "Aus dem ganzen Bundesgebiet kommen ausländische Kandidaten zu mir und wollen bei mir promovieren. Die meisten sind völlig frustriert", sagt Bahadir.
Die vielen Jahre an bundesdeutschen Universitäten haben aber auch den 61-jährigen Türken ein wenig ernüchtert. Ein Anreizsystem für Professoren, die junge Wissenschaftler mit Migrationshintergrund fördern, das könne sich an Universitäten vielleicht durchsetzen, meint Bahadir. Aber "affirmative action"? Nein, winkt der Professor ab, so weit sei man an deutschen Universitäten noch lange nicht.
Qualität statt Quote
Tatsächlich tut sich Deutschlands "Scientific Comunity" schwer mit Dahrendorfs Vorschlag. "Mit Quotenregelungen, mit starren Vorgaben überhaupt, habe ich ein Problem, weil sie den Geförderten oftmals mehr schaden als nützen", erklärt die Präsidentin der Hochschulrektorenkonferenz Prof. Dr. Margret Wintermantel ganz im Einklang mit dem Osnabrücker Migrationsforscher Prof. Dr. Klaus Bade. "Im Wissenschaftsbereich muss das oberste Kriterium die Qualität sein", setzt der Karlsruher Elite-Unichef Prof. Dr. Horst Hippler hinterher. Und auch der Deutsche Akademische Austauschdienst und die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) gehen auf Distanz zur Quote.
Das werden Wissenschaftler wie der Heidelberger Stammzellforscher Prof. Dr. Anthony Ho gern hören. Mit Schrecken erinnert sich der in Hongkong geborene Forscher an die Dramen, die sich bei Stellenbesetzungen in den USA abspielten: "Affirmative action schrieb so viel vor. Wir konnten nicht die qualifiziertesten Leute nehmen, wir mussten nach Hautfarbe aussuchen. Die Auswahl dauerte sehr lange und war sehr schmerzhaft", sagt Ho.
Doch nicht nur deshalb spricht er sich dezidiert gegen die Quote aus: "Eine Quotenregelung wird Begünstigte als inkompetent erscheinen lassen nach dem Motto: 'Das sind die Quotenmigranten'." Bevorzugung bei der Aufnahme an der Hochschule oder der Vergabe von Fördermitteln würde zu verstärkten Ressentiments gegenüber den begünstigten Minoritäten führen, glaubt Ho. Sein Plädoyer: "Wir müssen Zuwanderer ermuntern, sich zu bemühen und ihre Sprachkenntnisse zu verbessern." Integration sei ein langwieriger Prozess. Und viel Zeit wäre nötig, um Versäumtes aufzuholen.
Das Problem ist nur: Deutschland läuft die Zeit davon. Nicht umsonst rief Kanzlerin Dr. Angela Merkel im Juli zum Integrationsgipfel und nicht von ungefähr will Bildungsministerin Dr. Annette Schavan im Zuge der Nationalen Qualifizierungsinitiative auch die Zahl der Studierenden mit Migrationshintergrund erhöhen. Doppelt so viele sollen es in fünf Jahren sein.
Dahinter steckt keine Nächstenliebe, sondern wirtschaftspolitische Notwendigkeit: Sinkende Geburtenraten und rücklaufende Zuwanderungszahlen wollen ausgeglichen sein - durch steigende Integrationsbemühungen und Migrantenförderung.
Aus Mangel an Forschern
So sieht das auch die Forschung: "Der Anteil von Wissenschaftlern mit Migrationshintergrund muss höher werden, wenn Deutschland das volle Potenzial seiner Bevölkerung ausschöpfen will", sagt AvH-Generalsekretär Dr. Georg Schütte. Angesichts der Demografie sei das "gar keine Frage". Eine "intensivere Förderung von Kindesbeinen an" wäre wichtig. Denn "hier werden die Grundlagen für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund dafür gelegt, später überhaupt eine wissenschftliche Karriere einzuschlagen", sagt Schütte.
So schwingen sich Hochschule und Wissenschaft auf einen Konsens ein: Das Potenzial der Migranten muss erschlossen werden, ja. Das Hauptaugenmerk liegt aber bei den Schulen und Kindergärten, also außerhalb von Hochschulen und Forschungsinstituten. Dabei bekommt die Wissenschaft den Engpass schon zu spüren. Nach EU-Berechnungen fehlen in Deutschland derzeit 70.000 Forscher, und für das Jahr 2014 prognostiziert das Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln einen Mangel an 135.000 Naturwissenschaftlern und 95.000 Ingenieuren. Den Ökonomen zufolge kostet der Fachkräftemangel die Bundesrepublik allein in diesem Jahr 20 Milliarden Euro.
Fatal wirkt vor dem Hintergrund die Botschaft aus der OECD. "Nur in wenigen Ländern ist die Qualifikationsstruktur der Zuwanderer im Verhältnis zur übrigen Bevölkerung so ungünstig wie in Deutschland. Dies ist ein Grund für die schlechteren Arbeitsmarktergebnisse von Migranten - jedoch nicht der einzige, denn auch hoch qualifizierte Migranten tun sich in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt schwer", heißt es in der Studie "Jobs for Immigrants - Labour Market Integration in Australia, Denmark, Germany and Sweden".
Wo fängt Integration an?
Die Bildungsbenachteiligung ist also nicht das einzige Problem, das Deutschland bei der Integration seiner Zuwanderer lösen muss. Dass auch Frankreich im "Europäischen Jahr der Chancengleichheit für alle 2007" nur bedingt glänzt, mag allenfalls ein schwacher Trost sein. Im März vergangenen Jahres reagierte die Regierung auf die Unruhen in den Vorstädten vom Herbst 2005 und beschloss das lang angekündigte Gesetz zur Chancengleichheit. Damit wurde der anonyme Lebenslauf bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter eingeführt.
Ist der Ausschluss von Diskriminierungschancen gleich Integration? Und ist Deutschlands Wissenschaft am Ende vielleicht doch nicht so weltoffen, wie sie und die Öffentlichkeit gern glauben will? Fakt ist: In der Migrations und Integrationsforschung gibt es noch viele weiße Flecken. Einen davon besetzt das Kompetenzzentrum Frauen in Wissenschaft und Forschung CEWS. Dr. Inken Lind geht dort der Frage nach der Integration von Wissenschaftlerinnen mit Migrationshintergrund in universitäre Laufbahnen nach.
Bewahrheitet sich der Eindruck des Erlanger Orientforschers Sefik Bahadir, schneiden zumindest die sozial und geisteswissenschaftlichen Fakultäten mit ihrer Integrationsleistung nicht so gut ab. Um die Veränderung von Denkstrukturen, darum geht es Bahadir im ersten Schritt. Eine Chance dazu besteht jetzt. Bei der Debatte um "affirmative action". Ralf Dahrendorf hat sie eröffnet.