Ich hoffe die folgenden Zeilen, ich gestehe, es sind nicht wenig, klären die oftmals fehlgedeutete Angelegenheit "Herrenmoral vs. Sklavenmoral". Dabei habe ich versucht meine diesbezüglichen Anschauungen so detailiert wie möglich abzufassen und zum Zwecke des Disputs hier beizulegen. Wer es für nötig hält, mag das Kommende als Abgesang auf den Monotheismus im Allgemein und das Christentum im Besonderen betrachten. Dabei soll es jedem auf Basis der grundgesetzlich festgehaltenen Religionsfreiheit selbst überlassen sein an was oder wen er glaubt. Ungetrübt dessen wie angekündigt hier meine Sicht der Dinge:
Im Heidentum ist der Mensch von Natur aus unschuldig. Er muss zwar im Laufe seines Lebens manche Verantwortung auf sich nehmen. Irgendeine Handlung, die ihm eine bestimmte Sachlage hineinzieht, kann in ihm ein Schuldgefühl hervorrufen. Dieses Gefühl geht aber immer aus der freien Wahl hervor, die er getroffen hat: Bei seiner Geburt erbt der Mensch keine Schuld, keinen mit seinem Mensch-sein verbundenen Mangel (außer seinen seelischen oder körperlichen Beschränkungen, die frei von moralischen Verwicklungen sind). Beim Auftakt ist er reine Unschuld, eingefleischte Unschuld. Gerade diese Unschuld ermöglicht ihm, jenen Ernst, den das Kind beim Spielen beweist, zu verwirklichen; das Handeln in ein Spiel zu verwandeln. Denn nur das Spiel ist in Wirklichkeit ernst: Spiel des Menschen, Spiel des Seins, Spiel der Welt. Das Spielen ist grundsätzlich unschuldig, jenseits von Gut und Böse. Schiller schließlich behauptet, daß der Mensch nur wirklich Mensch ist, wenn er Spielt.
Deshalb steht das Kind dem Übermenschlichen am nächsten. Die Welt des Übermenschlichen hat das Kind als Prinzen. Es handelt sich um eine jenseits von Gut und Böse geschaffene Welt, in welcher der moralische Sinn einer Handlung gegenüber der Handlung selbst gleichbleibend ist. Im Gegensatz zum Heidentum, das die Ethik ebenso wie die Religion eher aus einer Läuterung der menschlichen Tätigkeiten zu folgern scheint, trachtet die Bibel danach, die Religion aus der Moral zu folgern, ja sogar von der Thora aus der Existenz Jahwes zu schließen. Lassen wir uns aber nicht beirren! Wenn Nietzsche (in den Heidegger den letzten deutschen Philosophen sieht, der mit Leidenschaft und Schmerz Gott gesucht habe) dem Gekreuzigten die Gestalt des Dionysos gegenüberstellt, stellt er der Religion keine Religionslosigkeit entgegen. Der Verfall der auf Moral verengten Religion stellt er vielmehr eine echte Religion, ein echtes Gefühl für das Heilige entgegen.
Zu wiederholten Malen verurteilt die die Bibel die Reiche, die mächtigen Städte und Nationen als böse an sich. Sie verflucht die Stolzen, die von ihrem Gebot abweichen. Sie ruft zur völligen Zerstörung der Schönheit, der Macht und des Hochmuts auf. Der Vielzahl an Kulturen und ihren Leistungen, die aus dem schöpferischen Willen des Menschen entstanden sind, stellt sie die Verarmung der monotheistischen Behauptung, die Wüste des Absoluten, die Gleichheit in dem unerschaffenen Wesen entgegen. Sie legitimiert die Schwäche, sie entlegitimiert die die Kraft oder die Macht. Eines Tages werden, die Schwachen, die Gerechten nämlich, siegen, die Mächtigen von ihrem Thron abgesetzt werden, die menschlichen Ansprüche im Angesicht Jahwes zusammenbrechen. Diese Auffassung der auf Rachsucht und Ressentiment gründenden sozialen "Gerechtigkeit" nimmt alle Formen des Kommunismus vorweg.
Diese Behauptung ist aber im Grunde nur ein Mittel, die menschliche Herrschaft in ihrem Prinzip - und nicht etwa in irgendeiner ihrer Äußerungen - anzufechten. Nicht den Machtmissbrauch verurteilt Jahwe, sondern die Macht selbst. Das biblische Denken hält die sich als souverän ausgebende menschliche Macht für böse an sich, sie ist in ihrem Wesen böse. Der "Gerechte" ist nicht teils gerecht, teils schwach. Er ist gerecht, weil er schwach ist, gerade aufgrund seiner Schwäche, so wie der Mächtige böse ist aufgrund seiner Macht. Deshalb erhöht die Bibel weniger den Schwachen, als vielmehr die Schwäche.
Die Metaphysik der Rache, die Ideologie des Ressentiments als Quelle der allgemeinen Umwertung, als Quelle der Verwandlung des Positiven ins Negative findet in diesem System ihre beste Grundlage. Die Rachsucht ruft das schlechte Gewissen hervor, das wiederum die Idee der Sünde mitenthält. Die in der Bibel enthaltene Anschauung, wonach es an sich gerecht ist, daß die Ersten die Letzten sind und umgekehrt, kann sich notfalls auf den Begriff der Liebe stützen; dennoch erfährt diese Liebe stets ihre Grenze in der Unduldsamkeit, die ihren relativen Gegensatz darstelle; eine zeinahe weltliche Übertragung hat obige Anschauung übrigens in einer berühmten Rede über die Freiheit erfahren, die den "Feinden der Freiheit" zu verweigern geboten ist. Innerhalb des Christentums mündet diese Idee in die Seligpreisungen, ein echtes Programm zu einer allseitigen Umwertung; Umwertung vor allem der klassischen Wertgleichung des Heidentums ("gut-vornehhm-mächtig-schön-glücklich-gottgeliebt")
"Die Elenden sind allein die Guten; die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten; die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Häßlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein gibt es Seligkeit - dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ih seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein." (Nietzsche)
Max Weber, ebenso wie Nietzsche, konnte in der Bergpredigt den Redeentwurf für einen Sklavenaufstand erkennen. Das Neue Testament entwickelt mit besonderer Feindheit einige sich daran knüpfende Themen. In Gegenwart seiner Jünger ruft Jesus aus: "Ihr wißt, daß die, die als Herrscher der Völker gelten, sie unterjochen und daß ihre Großen sich Gewalt über sie aneignen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer unter euch der Größte sein will, soll euer Diener sein, und wer unter euch der Erste sein will soll der Diener aller sein." Dieses Thema wird mehrmals aufgegriffen, unter anderem bei Matthäus (20, 25-27). Diese soziale Moral klingt noch bei den Kirchenvätern nach - sogar in der Wertlehre des Thomas von Aquin, die schon Ricardo und Karl Marx ankündigt.
Bekanntlich hat sich das Christentum in der Entstehungszeit vornehmlich an die gesellschaftlich Entwurzelten sowie an die Unwissenden gewendet. Im 2. Jahrhundert, und sogar im 3., war die christliche Kirche noch im großen und ganzen (trotz zahlreicher Ausnahmen) eine Schar von Armen. Dieser Umstand trägt übrigens zu ihrem Erfolg bei, da das Christentum vom Drang nach sozialer Umwälzung erheblichen Nutzen zieht. Das Christentum verhieß den Armen mit Vorbehalt ein besseres Erbe in der anderen (jenseitigen) Welt. Mehrere heidnische (wetteifernde) Religionen taten zwar dasselbe, dennoch verfügte das Christentum über einen größeren Stock und eine saftigere Möhre.
Das Christentum versäumt es schließlich nicht, die Idee vom leidenden und triumphierenden Gerechten zur Entfaltung zu bringen; dabei stützt es sich vorwiegend auf das Beispiel Jesu, der erst wieder zu Ehren kommt, nachdem er im voraus in seine Erniedrigung eingewilligt hat, und zwar in jene Kreuzigung zur Erlösung der Menschheit. Die Dialektik der Schwäche, die keine Schwäche ist, und der Macht, die keine Macht ist, das heißt, eine Dialektik der scheinbaren Schwäche oder Macht ist ebenfalls bei Paulus anzutreffen, nach dessen Ansicht man sich insofern seiner Schwächen rühmen müsse, als Weisheit letzten Endes Wahnsinn sei und Macht Schwäche.
"Sehr gern will ich mich also um so mehr meiner Schwachheiten rühmen, auf daß die Kraft Christi sich auf mich niederlasse. Darum habe ich Wohlgefallen an Schwachheiten, an Schmähungen, an Notlagen, an Verfolgungen und Bedrängnissen um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, dann bin ich stark." (Der zweite Brief an die Korinther 12,9-10)
Auf politischer Ebene nahm das Christentum logischerweise erst heidnische Züge nach seinem Regierungsantritt an. In der europäisch-christlichen Zusammensetzung erfuhr die biblische Problematik ihre Umkehrung; das heißt, es wurde behauptet, daß der Mensch dem Fürsten so gehorchen solle, wie er Gott gehorcht, daß die weltliche Autorität an sich Ausdruck eines göttlichen Willens sei und so weiter. Überleben konnte das nunmehr eingeführte Christentum nur auf Kosten eines Kompromisses zwischen seinen Grundregeln und einer elementaren Realpolitik vorwiegend römischen Ursprungs.
"Theoretisch nahm das Abendland das Christentum an, praktisch blieb es aber heidnisch. Draus ergab sich eine Hybridität. Selbst in seinem katholischen, das heißt gemäßigten und romantisierten Erscheinungsbild erwies such der christliche Glaube als ein Hindernis, das den westlichen Menschen um die Möglichkeit brachte, seine wahre und uneinschränkbare Seinsweise zu vereinigen dank einer Auffassung vom Heiligen und von den Beziehungen zum Heiligen, die seinem eigentlichen Wesen entspricht. Wiederum hinderte gerade diese Sichtweise das Christentum daran, im Abendland tatsächlich eine entgegengesetzte, das heißt priesterliche und religiöse Tradition einzuführen, welche den Idealen der ursprünglichen Ecclesia (Kirche), dem evangelischen Pathos und dem Symbol des mystischen Leibes Christi entspricht." (Julius Evola)
Desweiteren schreib Evola: "Wir dürfen uns nicht den Gegensätzen verhehlen, zwischen der reinen christlichen Moral der Liebe, der Vergebung, der Demut, der mystischen Menschlichkeit einerseits und andererseits den ethisch-politischen Werten der Gerechtigkeit, der Ehre, des Unterschieds sowie einer Geistigkeit, die, weit davon entfernt, die Macht zu widerlegen, sie vielmehr als ihr normales Merkmal innehätte. Dem christlichen Gebot, Böses mit Gutem zu vergelten, steht zwar jenes gegenüber, das Unrecht zu schlagen, zu verzeihen und großzügig zu sein, aber gegenüber dem besiegten Gegner, und nicht gegenüber demjenigen, der sich kraft seiner Ungerechtigkeit aufrecht hält. Eine männliche Organisation, so wie das Ideal vom wahren Staat sie voraussetzt, läßt keine Liebe im Sinne von Mitteilung, Umarmung, Erniedrigung, Fürsorge für denjenigen zu, der sich nicht darum bemüht oder ihrer nicht würdig ist.
Zwar können gleichberechtigte Beziehungen ins Auge gefaßt werden, ohne jede sozialkommunistische oder verbrüdernde Färbung auf der Grundlage einer wechselseitigen Ehrlichkeit, Dankbarkeit und Achtung, sofern jeder seine Würde sowie eine gewisse Neigung zum Abstand bewahrt. Es erübrigt sich hierbei, die politischen Folgen aufzuzählen, die eine wörtliche Auslegung der evangelischen Lehren herbeiführen würde, so zum Beispiel jenes Gleichnisses von der Linie auf dem Feld und den Vögeln im Himmel und vieler anderer mehr oder minder nihilistischer Bezugnahme, wobei alle von einer Umwälzung der irdischen Werte sowie von einem unmittelbar bevorstehenden Eintreten des Reiches ausgingen."
Faustische Kraft und christlicher Geist trennen sich nach einer Ehe, die eigentlich nie vollzogen wurde, und der Begriff der christlichen Politik ist innerhalb der Kirche selbst immer mehr umstritten. Kommen wir nun zum Heidentum:
Nicht nur, daß der biblische Gegensatz zwischen Moral oder Recht und politischer Souveränität in der Ideologie des europäischen Heidentums ausbleibt - beide Begriffe werden dort vielmehr eng miteinander verbunden. Bei den alten Europäern werden Recht und politische Souveränität von Göttern verkörpet, welche die beiden untrennbaren Grundausprägungen dieser ersten Funktion darstellen: Dius Fidius (der treue Gott) und Jupiter bei den Römern, Tyr und Odin/Wotan bei den Germanen. Die religiöse Tatsache bietet eine einleuchtende Lehre von brennender Zeitnähe.
Gleichermaßen ist Freiheit kein Zustand, der aus der Beseitigung aller menschlichen Zwänge hervorgeht. Sie ist keineswegs ein natürlicher Zustand des Menschen, den die Gesellschaft, die Regierungsmacht, die soziale Ordnung und so weiter entfremdet hätten, das heißt keine unbestimmte oder unendliche, der Natur selbst des (rousseauischen) Menschen entsprechende Freiheit; keine den Menschen rechtmäßig innewohnende Freiheit aufgrund ihres individuellen, als souverän hingestellten Willens (sofern sie von einer absoluten, schon vor der Gesellschaft bestehenden Souveränität ausgeht); keine Freiheit also, die die Macht als grundsätzlich anerkennen sollte, als Berechtigung, als Befreiung von jedem Zwang. Freiheit ist ein politischer Begriff, und kein moralischer; als solcher kann sie sich nicht den Voraussetzungen des Politischen entziehen.
Freiheit muß erobert werden. Sie hat keine "spontanen Nutznießer", sondern Stifter und Garanten. Freiheit geht ausschließlich aus dem Bestreben hervor, sie einzuführen oder zu erobern, ob diese Unternehmung individuellen oder kollektiven Ursprungs ist. Sie setzt also, vom Wesen her, eine völlige Souveränität voraus. Völker und Nationen, ebenso wie die Personen selbst, sind nur in dem Maße frei, wie sie souverän sind.
"Der freie Mensch ist ein Krieger", behauptet Nietzsche. Diese Formel findet in Nietzsches Auffassung der Freiheit Erläuterung; für ihn besteht Freiheit darin, den Willen zur Selbstverantwortung zu besitzen, damit wir den uns trennenden Abstand aufrechterhalten. Sie ist also weniger Zwanglosigkeit als vielmehr der freie Wille, sich selbst einen Zwang anzutun, der den Machtzustand sowie die volle Beherrschung der Fähigkeiten begünstigt, Hauptbedingung zu deren Anwendung; Vermögen, sich an Versprechungen zu halten, die man sich gemacht hat.
Wir können hinzufügend festhalten, daß das christliche Ideal des Weltfriedens ein Ideal der Widerspruchslosigkeit darstellt, das zwangsläufig die Aufhebung der Unterschiede in sich schließt - und bis zu dieser Aufhebung ihre theoretische Abwertung -, sofern die Unterschiede das Widersprüchliche erzeugen. Der Widerspruch ist der eigentliche Motor des Leben; das Verlangen, ihn auszumerzen, ist ein Verlangen nach Tod.
Ganz anders ist es im Heidentum, in dem der Konflikt der Gegensätze und dessen Lösung in dem und durch das Weltsein den Kampf als eine positive Grundtatsache heiligt. Der Kampf begründet keine Ordnung, er bildet aber die Struktur der Welt. Indem er zugleich Aufrechterhaltung und Umwandlung einschließt, sichert der keineswegs mechanistisch unüberwindbare, sondern durchaus dialektische Widerspruch seine eigene Überwindung oder Aufhebung. Im empirischen und vorbegrifflichen Zustand kommt dies bereits in der Antike, unter anderem bei Heraklit, eindeutig zum Ausdruck: "Zu wissen aber tut not: der Krieg führt zusammen, und Recht ist Streit, und alles Leben entsteht durch Streit und Notwendigkeit." (Heraklit, Fragment 80)
"Aus dem Krieg des Entgegengesetzten entsteht alles Werden", schreibt Nietzsche über Heraklit, "die bestimmten als andauernd uns erscheinenden Qualitäten drücken nur das momentane Übergewicht des einen Kämpfers aus, aber der Krieg ist damit nicht zu Ende, das Ringen dauert in Ewigkeit fort ... Es ist die gute Eris (Zwietrachtsgöttin) Hesiods zum Weltprinzip erklärt, es ist der Wettkampfgedanke der einzelnen Griechen und des griechischen Staates, aus den Gymnasien und Palästen, aus den künstlerischen Agonen (Kämpfen), aus dem Ringen der politischen Parteien und der Städte miteinander ins Allgemeinste übertragen, so daß jetzt das Räderwerk des Kosmos in ihm sich dreht." (Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter)
Im ganzen Verlauf der europäischen Geschichte untermauerte diese inbegriffene Philosophie die Erhöhung der Kampfwerte. Saxo Grammaticus legte Bjarei in den Mund: "Der Krieg geht von wohlgeborenen Menschen aus; von hoher Geburt sind die Kriegsmacher. Die gefahrvollen Taten, auf die sich die Heerführer einlassen, können nicht von Gemeinen stammen." (Gesta Danorum, 2, 65)
Und gerade die Vorstellung von einem Weltkampf (und nicht von einem Weltfrieden) kommt in der schönen Zeichnung des geheimnisvollen Petracameisters, Der Kampf in der Natur (1520) zum Ausdruck.
Während der christliche Monotheismus, den Wahn vom Einzigartigen und Gleichartigen übertragend, die Auslöschung der Konflikte fordert (oder sich mit dieser Forderung zu rechtfertigen glaubt), ohne einzusehen, daß die gegensätzliche Struktur die des Lebendigen ist und daß deren Vertilgung Zunahme der Entropie und Tod nach sich zieht, beruht das europäische Heidentum auf einem gegensätzlichen Wertepluralismus. In seinen unmittelbarsten Erscheinungsformen drückt der Polytheismus diese Gegensätzlichkeit aus, die niemals in unumkehrbare Gegensätze, in einen radikalen Dualismus mündet, die sich, auf natürlichem Wege, in einem harmonischen Ganzen aufhebt. Die Götter des Heidentums kämpfen gegeneinander; dieser Kampf stellt dennoch niemals die aus dem Gründungskrieg stammende Dreier-Struktur in Frage.
Gerade weil die "Götter gegeneinander kämpfen" (Max Weber), kämpfen auch stets pluralistische, gegensätzliche Kräfte in einer ständigen, gründenden Wieder-Holung gegeneinander und stoßen zusammen, wobei keine von vornherein im Absoluten abgewertet wird. Im Sinne des Heidentums kann nicht einmal der öffentliche Feind (hostis, im Gegensatz zu inimicus) das Übel an sich darstellen. Er bleibt immer ein relativer Gegner. Die gegenseitige Hochachtung kann sogar aus dem Zusammenstoß hervorgehen. Weit davon entfernt, daß man den Feind zu dessen Bekämpfung abwerten muß (unabwendbars Muß in einem pazifistischen System), kann man ihn vielmehr erst in dem Maße, wie man ihn bekämpft, wie er (gut) kämpft, als Ebenbürtigen betrachten.
Daher jene grundsätzlich heidnische Aufforderung an den "brüderlichen Gegner", die - auch wenn sie heute selten wahrgenommen wird - genau das Gegenteil von der Schuldvergebung darstellt, von der linken Wange, die man dann reicht, wenn auf die rechte geschlagen worden ist. Daher auch die weit zurückreichende Duellerfahrung, die als der eigentliche Ausdruck dieser Geisteshaltung aufzufassen ist (von der wir auch wissen, wie sehr sie im Laufe der Zeit in Vergessenheit geriet, unabhängig von der technischen Entwicklung der Vernichtungsmittel).
Das Motiv der verfeindeten Brüder, das sich in der indogermanischen Überlieferung anscheinend an das Thema der göttlichen Zwillinge knüpft, veranschaulicht die Art, wie das heidnische Denken Konflikte und Auseinandersetzungen jenseits von Gut und Böse festlegt. Man braucht lediglich den Gegensatz Abel/Kain oder Jakob/Esau mit dem Gegensatz Etokles/polyneikes oder Epimetheus/Prometheus (oder Romulus/Remus) zu vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Durchaus bemerkenswert ist nachzuvollziehen, wie die faustische Seele unter anderem in der Sturm-und-Drang-Zeit bei Schller (Die Braut von Messina) und bei Goethe (Pandora) den biblischen Mythos von Abel und Kain verwandelt hat.
Entweder scheint die Vorliebe für den Abel-Typus zurückzugehen, oder der Kain-Typus wird unverhohlen bevorzugt, oder aber beide Typen werden über den sie gegenüberstellenden Konflikt hinaus als einander ergänzend betrachtet. Beide Typen versinnbildlichen somit die sapientia (Weisheit) und die fortidudo (Tapferkeit): was wäre die Weisheit ohne die Macht? Und erst durch die Vereinigung beider Typen kommt Harmonie auf. Dies liegt der goethischen Auffassung von der Wiedervereinigung der Gegensätze zugrunde. Diese Philosophie stimmt auf dem politologischen Bereich mit der Freund-Feind-Theorie von Carl Schmitt vollkommen überein, ungeachtet dessen, daß Schmitt bekennender Katholik war.
Von dem Augenblick aber, wo der Konflikt einer moralischen Auslegung unterstellt wird - das heißt einer Moral, die Gut und Böse als absolut hinstellt - , wird er unlösbar, da unauslöschlich. Der Feind ist nicht beseitigt; er ist verwandelt: aus einem relativen vorläufigen Gegner hat er sich zum absoluten Feind entwickelt. Der Feind kann in der Tat nur das Böse darstellen. Eben das von ihm verkörperte Böse wird in ihm bekämpft; und dazu sind alle Mittel gut oder können es sein. Der Feind ist schuldig; er muß bestraft werden. Diese Straffälligkeit des Gegners ist ein Bestandteil des ganzen Systems; Wenn man sich zum Weltfrieden bekennt, kann der Krieg nur im Namen des Guten an sich geführt werden.
Alle Kränklichen sehen sich nach der Herde. Die Masse - zumindest glauben sie das - soll das ausgleichen, was ihnen fehlt: wenn sie zu mehreren an sich selbst leiden, ist es ihnen, als wenn sie weniger litten. Diejenigen, die such auf die christlich-orientalischen Werte des Monotheismus berufen, schreiben manchmal den Mächtigen die Gefühle zu, die sie hätten, wenn sie an ihrer Stelle stünden, ohne einzusehen, daß die echte Macht ihr eigener Endzweck ist, daß sie - vorausgesetzt, ist ist ungetrübt - auf keinen Vorteil hinzielt, daß "der Wille zum Willen jedes Ziel an sich leugnet und Ziele nur zuläßt als Mittel, um sich willentlich selbst zu überspielen und dafür, für dieses Spiel den Spielraum einzurichten." (Heidegger, Vorträge und Aufsätze)
Im Heidentum ist das Glück der Macht niemals entgegengesetzt; es steht aber auch nicht im Gegensatz zur Gerechtigkeit. Wenn das Heidentum die Erhöhung der Schwäche verurteilt, beabsichtigt es in keiner Weise, die Unterdrückung der Schwachen durch die Starken zu rechtfertigen, auch nicht das ideologische Alibi für irgendwelche bestehenden Unruhen zu finden. Es will vielmehr dazu beitragen, den geistigen Rahmen zu bilden, kraft dessen jeder Mensch, gleich welcher Herkunft, das pflegen kann, was ihn bestärkt, und nicht das, was ihn auseinandernimmt - vorausgesetzt, dass er dazu gesonnen ist.
Es wirft dem Judenchristentum keineswegs vor, die zu Unrecht unterdrückten Schwachen in Schutz zu nehmen. Es wirft ihm aber vor, die Schwäche zu erhöhen und darin das Zeichen für ihre Auserwählung sowie ihren Glorienschein zu sehen; es wirft ihm vor, sie nicht zu bestärken. Es geht also nicht um den Gegensatz zwischen Starken und Schwachen - heute übrigens ist das Heidentum schwach und der jüdisch-christliche Monotheismus stark -, sondern vielmehr um den Gegensatz zwischen einem verstärkenden System und einem die Ohnmacht besiegelnden.
Es geht auch darum, aus der Welt nicht etwa ein Jammertal, ein Schattenspiel, eine Bühne zu machen, in denen der Mensch mit unterschiedlichem Glück um seine Seligkeit spielt, sondern das natürliche Selbstentfaltungsfeld - für einen Menschen, der aufgrund seiner behaupteten Selbstständigkeit dazu fähig ist, sich als seinen eigenen Entwurf zu bekennen.