Die "unglückliche Äußerung" und ihre Folgen
Angela Merkel: "Debatte versachlichen" / Stoiber fordert Neuordnung des Finanzausgleichs
Nach der einhelligen Kritik aus dem Osten widersprechen auch viele westdeutsche Politiker der Äußerung von Bundespräsident Horst Köhler zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland. Dieses Ziel dürfe nicht aufgegeben werden.
Umstrittene Forderung: Horst Köhler (ddp)
Berlin (dpa/ap). Nach der einhelligen Kritik aus dem Osten widersprechen auch viele westdeutsche Politiker der Äußerung von Bundespräsident Horst Köhler zur Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland. Schleswig-Holsteins Ministerpräsidentin Heide Simonis (SPD) sprach am Sonntagabend im ZDF von einer "ausgesprochen unglücklichen Äußerung" Köhlers. Man dürfe das Ziel gleicher Lebensverhältnisse nicht aufgeben.
In der Debatte hat die CDU-Vorsitzende Angela Merkel inzwischen vor "Überspitzungen" gewarnt. Merkel verlangte am Montag in Berlin eine "Versachlichung der Debatte", man solle das komplette Interview des Präsidenten zur Kenntnis nehmen. Niemand wolle die Unterschiede zwischen Ost und West wegwischen.
"Die Schere zwischen Ost und West muss geschlossen werden", sagte Merkel weiter. Außer den Finanztransfers müssten aber auch neue Lösungswege beschritten werden um die Angleichung herbei zu führen.
Die Diskussion müsse in jedem Fall von den politisch Verantwortlichen weitergeführt werden.
Die Bundesregierung will die Äußerungen Köhlers nicht bewerten. Dies entspreche einer guten Gepflogenheit, sagte der stellvertretende Regierungssprecher Thomas Steg am Montag in Berlin. Zugleich unterstrich er aber, dass die Bundesregierung an der Angleichung der Lebensverhältnisse festhalte. Dies bleibe "ein übergeordnetes und nicht aufgebbares Politikziel".
Der Wirtschaftsexperte der Grünen, Fritz Kuhn, warf Köhler in der "Berliner Zeitung" (Montag) ungewollte Wahlkampfhilfe für die PDS vor. Kuhn erklärte: "Die PDS lebt von einem Grundgefühl vieler Ostdeutscher, zweitklassig zu sein. Wenn Köhler sagt, dass es Gleichheit zwischen Ost und West nie geben wird, heizt er genau dieses Gefühl an." Allerdings sieht auch das Grundgesetz nicht die "Gleichheit der Lebensverhältnisse" vor. Diese Formulierung wurde 1994 gestrichen und stattdessen die "Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" als Aufgabe des Bundes in den Artikel 72 aufgenommen.
Altbundespräsident Richard von Weizsäcker dagegen gab Köhler grundsätzlich recht. "Im Osten wie im Westen gibt es keine wirkliche Gleichheit, das kann es gar nicht geben", sagte er im ZDF. Der FDP- Vorsitzende Guido Westerwelle sagte laut "Bild"-Zeitung, die Politik könne nur für Chancengleichheit nicht aber gleiche Ergebnisse sorgen.
Unumwunden Recht gab Köhler der frühere Wirtschaftsweise Rolf Peffekoven. In einem föderativen Staat könne man zwar einen gewissen Ausgleich anstreben, doch die bestehenden Regelungen seien "weit über den gebotenen Ausgleich hinausgegangen", sagte Peffekoven im BR.
Dagegen sprach der stellvertretende Chef der SPD- Bundestagsfraktion, Ludwig Stiegler, in der "Berliner Zeitung" von einem Aufruf Köhlers zur Resignation: "Man muss dem Bundespräsidenten heftig widersprechen." Der Vorsitzende des Bundestags-Wirtschaftsausschusses, Rainer Wend (SPD), sagte dem "Kölner Stadt- Anzeiger" (Montag), wenn man vom Ziel gleicher Lebensverhältnisse abrücke, "stößt man die Bürger vor den Kopf und gibt den Menschen in den neuen Bundesländern das Gefühl, sie seien abgehängt".
Köhler hatte im Magazin "Focus" auf "große Unterschiede in den Lebensverhältnissen" hingewiesen und gesagt: "Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf. Wir müssen wegkommen vom Subventionsstaat." Das für den Aufbau Ost zuständige Bundesverkehrsministerium hatte diese Forderung ebenso zurückgewiesen wie die meisten ostdeutschen Ministerpräsidenten.
Der Grünen-Vorsitzende Reinhard Bütikofer hatte in Berlin gesagt: "Er mag abstraktphilosophisch Recht haben, dass es absolute materielle Gleichheit nicht gibt, aber politisch geht es sehr wohl um Gleichheit, nämlich Gleichheit der Chancen, Gleichheit des Zugangs und der Teilhabe." Wie die CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatten die Regierungschefs von Brandenburg, Sachsen und Sachsen- Anhalt, Matthias Platzeck (SPD), Georg Milbradt (CDU) und Wolfgang Böhmer (CDU), eingeräumt, dass es weiter regionale Unterschiede geben werde - nur dürfe die bestehende West-Ost-Schere am Arbeitsmarkt nicht akzeptiert werden.
Köhler "grundsätzlich recht" gegeben hatte dagegen Brandenburgs Innenminister und CDU-Spitzenkandidat Jörg Schönbohm: "Identische Lebensbedingungen sind in einem Flächenstaat wie Deutschland gar nicht denkbar." Die stellvertretende Vorsitzende der FDP- Bundestagsfraktion, Birgit Homburger, bekannte sich in Stuttgart zur Solidarität des Westens mit Ostdeutschland, sagte aber auch: "Der Bundespräsident hat mit seinen mutigen Äußerungen deutlich gemacht, dass wir uns endlich von der Nivellierungsideologie verabschieden müssen. Gleichmacherei bringt unser Land nicht weiter."
Der Leiter des zeitweiligen Arbeitskreises Ost der Bundesregierung , Klaus von Dohnanyi, hält die Diskussion um eine Angleichung der Lebensverhältnisse in Deutschland für überzogen. "Wir sind in Deutschland wirklich ein Volk von Wortklaubern geworden", sagte von Dohnanyi am Montag im Deutschlandfunk. Das, was Bundespräsident Horst Köhler gesagt habe, sei, "wenn man es wörtlich nimmt", "völlig in Ordnung". Köhler habe gesagt, man müsse sich mit unterschiedlichen, nicht mit den unterschiedlichen Lebensverhältnissen abfinden.
Von Dohnanyi forderte: "Hören wir auf mit dieser Wortklauberei, diskutieren wir über Inhalte." Im Osten brauche man eine "Ehrlichkeit der Lagebeschreibung" und eine Konzentration der Finanzen "auf die Wirtschaft und nicht auf die Straßen". "Wir brauchen eine bessere Abstimmung zwischen Bund und Ländern, damit wir eine gemeinsame Strategie fahren können und wirbrauchen auch eine straffere Führung des Aufbau Ost."
Quelle:Frankfurter Rundschau vom 13.09.2004