"Wir sind alle supergeil drauf..."
Erstaunlich die ausgelassene Freude auf den Straßen in der Silvesternacht. Eine Stimmung war das, unglaublich. Findet Ihr nicht auch? Die Bilder vom Brandenburger Tor -beeindruckend.
Heute früh schlenderte ich durch die Straßen Berlins -solltet Ihr auch mal machen. Eine phantastische Ruhe, ja schon fast Totenstille liegt wie ein Teppich über der Stadt. In dieser gespenstischen Ruhe offenbaren sich die ungeschminktesten Eindrücke, die erstaunlicherweise mehr erzählen, als sämtliche Jubelberichte in den Gazetten und auf den Bildschirmen zusammen.
Die Hinterlassenschaften des feiernden Volkes schmücken jeden Meter der Straßen, und mit ein bißchen Phantasie kann man sich vorstellen, wie Kathargo nach der Plünderung durch die Römer aussah: ein Bild des Grauens. Überall Dreck und ausgebrannte Feuerwerkskörper, stapelweise weggeworfene Verpackungen und kaputte Flaschen so weit das Auge reicht.
Mir kamen Zweifel auf, ob die Spuren einer offensichtlich bis zur Extase gefeierten Silvesternacht wirklich ihre Ursachen in der Lebensfreude des Subjektes haben. In Zeiten, wo der Geldbeutel immer schmaler wird, ist es doch erstaunlich, wieviel Geld der Pöbel dennoch immer wieder locker machen kann für ein haufen nutzlosen Drecks, der obendrein noch die unangenehme Eigenschaft in sich birgt, bei unsachgemäßer Benutzung eine menge Schaden anzurichten. Jedoch kann man das getrost als Kollateralschaden abbuchen. Aber das nur am Rande.
Wir waren beim Geld: Woher dieser Drang? Wer die Sache mal mit Abstand und Objektivität betrachtet, der sieht einen jolenden Mob, der sich entweder bis zur Besinnungslosigkeit besäuft oder sich mit penetranter guter Laune selbst betäubt. Das Ergebnis dieser Betrachtung zeichnet ein Bild vom letzten Abend vor dem Untergang, und man anläßlich dieses Ereignisses noch mal so richtig die Sau rausläßt. Ist das alles noch normal?
Dieses frenetische Feiern ohne Rücksicht auf Verluste wird uns ja medial das ganze Jahr förmlich aufs Auge gedrückt. Wir sind permanent gut drauf, immer lustig und feiern, bis der Arzt -oder Bestatter- kommt. Und immer sieht es so aus, als ob die Welt morgen unterginge.
Wieviel Geld wurde gestern abend wieder sinnlos verpulvert? Was für materielle Werte wurden für einen kurzen Augenblick des Vergnügens sinnlos vernichtet? Die Müllberge am Silvestermorgen geben Auskunft. Es ist ein Bild des Jammers, was uns der fünfsekündige Spaß einer Feuerwerksrakete so alles wert ist. Ja ist es denn das wirklich wert? Geht es auch eine Nummer kleiner, besinnlicher und gemütlicher? Wer feiert, als wäre es das letzte mal, der betäubt die Realität. Und spätestens dann sollte man sich der rationalen Vernuft besinnen.
Aber es offenbart sich nur der zur Normalität gewordene Irrsinn unserer Gesellschaft. Und da die oberste Maxime nun mal lautet: mehr, mehr, mehr, wird sie vom Urnenpöbel auch brav befolgt. Alles muß immer schneller, besser, größer, bunter, sauberer, gigantischer....was weiß ich nicht alles werden. Es reichen nicht ein paar Wunderkerzen aus, es muß ein Arsenal an Schwarzpulver sein, der genügen würde, ein ganzes Haus damit in die Luft zu jagen. Wir brauchen Autos mit mehr PS als ein LKW, wir müssen uns alle paar Monate ein neues Telefon kaufen, wir brauchen stets den neuesten Rechner, größten Fernseher und nicht zu vergessen die Playstation. Wir konsumieren, was das Zeug hält. Und es muß immer noch mehr sein. Der Motor muß laufen; er ist noch viel zu langsam. Immer mehr, immer schneller und für möglichst wenig Geld. Nicht eine Nanosekunde darüber nachgedacht, ob wir den ganzen Plunder auch wirklich brauchen, ob der ganze Dreck wirklich sinnvoll ist. Hauptsache der Rubel rollt. Und wenn er nicht rollen will, der Rubel, dann bezahlen wir mit Dispositionsgeld. Halleluja, was kostet die Welt! Was kümmert uns, was morgen ist: wir leben heute. Wir heucheln jeden Tag was von Verantwortung für unsere Kinder. Während wir über unseren Verhältnissen leben, als ob es kein Morgen mehr gäbe, verreckt die halbe Welt. Hauptsache wir haben unseren Spaß. Und für unseren Spaß beißt der halbe Globus ins Gras, vorher hat er uns unsere Billighemden geklöppelt und die supergünstigen Computer zusammengeschraubt -geiz ist geil! Nachdenken über den Irrsinn? Fehlanzeige. Eine Silvesternacht reicht aus, um zu begreifen was hier schief läuft. Wir alle sind Hamster in einem Rad, welches sich immer schneller drehen muß. Und wir strampeln fleißig mit. Wir saufen uns ins Koma, wir fressen uns die Wänste voll, aufdaß der Diabetikertod kommen möge; wir "jetten" um die halbe Welt für lau, um in den abgelegensten Ecken der Welt unseren Zivilisationsmüll zu hinterlassen. Wir trampeln alles nieder, bloß um nicht unseren Wohlstand aufgeben zu müssen, den sich die Mehrheit sowieso nicht mehr leisten kann, sie sich ihn aber leisten will. Scheißegal, mir komme!
Wo bleibt noch der Sinn für das wahre Leben ohne Krücken und Hilfsmittel in Form von zweifelhaften Vergnügungen? Waren solche Jahresendfeste nicht eher dazu geeignet mit der Familie oder Freunden zusammenzusitzen, um das Jahr noch einmal Revue passieren zu lassen? Besinnlich, unaufgeregt und vor allem kommunikativ? Heute muß der Alkohol fließen in Strömen, Musik bis zum Anschlag und "einfach nur Spaß haben". Und der normale soziale Kontakt geht vor die Hunde, die Reflektion seiner selbst, der gelebten Zeit, Erlebnisse -alles nur noch für den Augenblick. Kein Stoff für einen Jahresabschluß. Wir haben keine Zeit mehr für uns als Menschen -wir müssen feiern.
"Wie glücklich ist man doch, wenn man die Tage, welche die Parze einem spinnt, würdig benutzen kann und nicht in entehrenden Müßiggange die Zeit verliert, die nicht wiederkehrt und die auf ihrer Flucht unser Leben verkürzt." Friedrich der Große
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Wie sehen Eure Betrachtungen so aus?