Joschka Fischer hat sich heute abend wie angekündigt in den hessischen Landtagswahlkampf eingeschaltet. Dabei verbreitete er eine bemerkenswerte Aufforderung:
Deutschland müsse sich aufgrund der demographischen Entwicklung auf mehr Zuwanderung vorbreiten, sagte Fischer: "Für die Zukunft gilt das ökonomische Interesse." Ab 2010 werde die Bundesrepublik verstärkt auf Migranten angewiesen sein [...]
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Das ist schon erstaunlich. Denn Joscha Fischer warf Roland Koch im selben Redebeitrag "üble Propaganda" vor. (Was hatte Koch getan: Er hatte in klaren Worten angesprochen, was Studien bestätigt haben: Der Anteil der Migranten an der Jugendkriminalität ist zu hoch.)
Üble Propaganda? Joschka Fischer selbst versäumte es heute, darzulegen, welchen ökonomischen Nutzen die derzeitigen Folgen der Massenzuwanderung haben sollen. Denn er sprach nicht von "qualitativerer Zuwanderung", sondern einfach nur von "mehr". Er ließ auch offen, wessen Nutzen er eigentlich meint - er formulierte ja nur das "ökonomische Interesse". (Meint er das Interesse der Welt, das Europas, das anderer Staaten oder der Zuwanderer? Oder tatsächlich das Deutschlands?) Und er stellte es als gottgegeben in den Raum, dass die Demographie in Deutschland eine unveränderliche Entwicklung nehmen müsse, ganz so, als gebe es so etwas wie Familienpolitik als Alternative zum Migrationsaktionismus nicht.
Dass Fischer selbst Propaganda betreibt, wird allerdings bereits beim Hinweis auf ökonomische Interessen deutlich: Eine aktuelle Studie der Bertelsmann Stiftung hat ergeben, dass Deutschland jährlich 16 Milliarden Euro durch mangelhafte Integrationsleistungen verliert: "Dem Staat [gehen] etwa wegen fehlender Sprachkenntnisse der Zuwanderer und ihrer Arbeitslosigkeit Einkommenssteuern und Beiträge in der Renten- und Sozialversicherung verloren."
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Fischer ist aber noch aus einer anderen Perspektive Propagandist: Er war Stichwortgeber und ideologischer Wegbereiter für die grünen Thinktanks, die in Massenzuwanderung und Abgabe der deutschen Souveränitätsrechte an europäische Institutionen die Lösung der "Deutschlandfrage" sehen. Eine Heterogenisierung der deutschen Bevölkerung hinsichtlich der innenpolitischen Seite und eine zunehmende Machtlosigkeit Deutschlands auf der außenpolitischen Seite waren für Joschka Fischer die Mittel der Wahl, das "Risiko Deutschland" aufzuheben. So die Kernthesen in seinem für die Grünen richtungweisenden, gleichnamigen Buch. Vor diesem Hintergrund sind auch seine Forderungen zu sehen.
Die oft inkonsequente und passive Migrationspolitik der 80er Jahre, die entgegen des Willens der Bevölkerungsmehrheit zu einem Massenzustrom geführt hatte, sollte weitergeführt als festes Konzept grüne Glaubensvorstellungen verwirklichen: Die Anweisungen an Botschaften, Visa leichter zu vergeben, die Gesetzesreformen zu einer beschleunigten Vergabe der deutschen Staatsbürgerschaft an Ausländer sowie der Ausbau von Ausweisungshürden waren Folge dieser politischen Überzeugungen, die in den 90er Jahren teilweise sogar in das konservative Lager einsickerten. Mit messbaren Folgen:
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Ob Fischer hinsichtlich seiner Prognose Recht behält, dass Deutschland ab 2010 noch mehr Zuwanderung durch Migranten braucht, wird sich zeigen. Allerdings sollte man durchaus betonen, dass Fischer nicht unbedingt ein politischer Prophet ist. Im Juli 1989 sagte er beispielsweise in der Zeitung "Die Welt": "Die Forderung nach der Wiedervereinigung halte ich für eine gefährliche Illusion. Wir sollten das Wiedervereinigungsgebot aus der Präambel des Grundgesetzes streichen."
Ob Fischer heute wenigstens die Gefährlichkeit seiner eigenen Illusionen sieht?
Natürlich sparte Fischer in seiner Wahlkampfrede nicht mit den üblichen gutmenschlich-reflexhaften Vorwürfen wie "Ausländerfeindlichkeit" oder "Hetze". Auch Kurt Beck konnte nach dem unangenehmen Clement-Störfeuer der Versuchung widerstehen, erneut auf den inzwischen reichlich abgegriffene Vorwurf der Fremdenfeindlichkeit:
Der CDU-Politiker versuche auf Plakaten mit den ausländisch klingenden Namen seiner politischen Gegner Vorurteile zu schüren, sagte Beck am Montag in Frankfurt. "Es ist eine echte Sauerei."
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Herr Beck will Herrn Koch also allen Ernstens einen Vorwurf machen, dass SPD und Grüne Kandidaten aufstellen, die nichtdeutsche Namen tragen, und Koch im Wahlkampf natürlicherweise gegen seine Konkurrenten Ypsilanti und al-Wazir eingestellt ist? Er hat schließlich nicht darüber spekuliert, ob seine politischen Wettbewerber wirklich konsequent zum "Wohle des deutschen Volkes" handeln werden, und er hat auch nicht gefragt, ob mit der Aufstellung dieser Spitzenkandidaten nicht evtl. der hohe Anteil an türkischstämmingen Wählern bei SPD und Grünen anvisiert werden sollte. Dabei wäre diese Überlegung durchaus nicht aus der Luft gegriffen:
"Dadurch erklärt sich die Parteineigung der Migrantinnen und Migranten schon fast von selbst. Der hohe Anteil an Arbeitern und Arbeiterinnen bzw. die mehrheitliche soziale Herkunft aus Arbeiterfamilien und die hohe Gewerkschaftsbindung prädestiniert die Migrantinnen und Migranten, SPD zu wählen. Das christliche Element, das für die Wähler der CDU eine wichtige Klammer darstellt, ist für die vorwiegend muslimischen Migrantinnen und Migranten kaum ein Argument."
[Links nur für registrierte Nutzer] (Seite 157)
Zumindest im bevölkerungsreichsten Bundesland NRW sind 87% der größten Migrantengruppe, nämlich Türkischstämmige, für Rot oder Grün (Seite 156). Fischer fordert, Deutschland müsse noch mehr Migranten aufnehmen und kritisiert Koch mit Brachialrhetorik für das Ansprechen von Problemen mit gewalttätigen Ausländern. Beck empört sich sogar über das Verwenden der Nachnamen von Spitzenkandidaten, die an das Thema Migration erinnern. Das alles passt zusammen. Es scheint so, als ob die Deutungshohheit der Rotgrünen über eine korrekt geführte Migrationsdebatte gewaltig bedroht ist und damit auch ihre langfristige Strategie, das Wählerpotenzial zu mehren.