DIE WELT:
Jeder 10. Linken-Abgeordnete unter Stasiverdacht
Nach der spektakulären Bundestagsdebatte um die mögliche Stasi-Verstrickung des Linken-Politikers Gregor Gysi beschäftigt sich heute der Immunitätsausschuss des Parlaments mit dem Thema. Doch Gysi ist bei weitem nicht der einzige Abgeordnete der Linken, den Akten aus der Birthler-Behörde belasten.
„Vom Leben eines Anwalts in der DDR haben Sie schlicht und einfach keine Ahnung“, schimpfte Gregor Gysi am Mittwoch in seiner Apologie vor dem Bundestag. Damit dürfte er sogar richtig gelegen haben. Denn die zahlreichen Juristen unter den Parlamentariern aus den westdeutschen Ländern dürften in der Tat Schwierigkeiten haben, sich die Arbeit als vermeintlich unabhängiger Rechtsvertreter für Dissidenten in einem erklärtermaßen parteiischen Staat wie der SED-Diktatur vorzustellen. Gerade Verteidiger prominenter Staatskritiker waren in der DDR grundsätzlich nie unabhängig. Ob sie darüber hinaus Kontakte zur Stasi hatten wie nachgewiesenermaßen Wolfgang Schnur oder nicht, ist da gar nicht mehr so wichtig. Allerdings gibt es bei Gregor Gysi überwältigende Indizien für diese Annahme. In seiner Partei ist damit freilich keine Ausnahme.
Nach Recherchen von WELT ONLINE wird etwa jeder Zehnte der 203 Abgeordneten der Linken im Bundestag und in den fünf Ost-Parlamenten durch Unterlagen aus der Birthler-Behörde belastet. Der Anteil der unter Stasi-Verdacht stehenden Mandatsträger ist damit gut drei Mal so hoch, als er es unter der erwachsenen Bevölkerung in der vor 18 Jahren untergegangen DDR war. Das Image einer Stasi-Partei haftet der Linke nicht grundlos an. Bei den meisten Abgeordneten mit zweifelhafter Vergangenheit ist die Aktenlage unstrittig, weil handgeschriebene Spitzelberichte und oft auch noch persönlich unterschriebene Verpflichtungserklärungen vorliegen. In jenen Fällen aber, in denen solche Dokumente fehlen, leugnen die Mandatsträger in aller Regel, wissentlich und willentlich für den DDR-Geheimdienst gearbeitet zu haben.
Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach ist davon überzeugt, dass die Linke aus politischem Kalkül keinen Trennstrich zieht: „Es ist leider eine Tatsache, dass die Partei keine Anstalten macht, sich von den Altkadern zu trennen – auch weil sie deren Unterstützung braucht.“
Ohnehin gilt eine Stasi-Biografie in der Partei von Lafontaine, Gysi & Co. nicht unbedingt als Makel. Ein sächsischer Landtagsabgeordneter der Linksfraktion, der ungenannt bleiben will, sagte WELT ONLINE: „Manche unserer Genossen empfinden es sogar als Auszeichnung, wenn man früher für die Stasi gearbeitet hat.“
Allein im Bundestag sitzen sechs Politiker der Linkspartei, die – juristisch vorsichtig formuliert – eine große Nähe zum Mielke-Ministerium hatten. Neben Gysi ist zuallererst Lothar Bisky zu nennen. Der Parteichef, erst am vergangenen Wochenende im Amt bestätigt, wurde von der Stasi als IM „Bienert“ und „Klaus Heine“ registriert. Er selbst bestreitet die Vorwürfe und räumt lediglich ein, dienstlich mit dem Repressionsapparat zu tun gehabt haben.
Der Westdeutsche Diether Dehm (IM „Dieter“, IM „Willy“) behauptet, er sei vom MfS ohne sein Wissen abgeschöpft worden. Doch nach einer Entscheidung des Frankfurter Landgerichts darf das frühere SPD-Mitglied „Stasi-Informant“ genannt werden. Laut seiner 400 Seiten umfassenden Akte berichtete der Konzertmanager über Frankfurter Jungsozialisten, den SPD-Bezirk Hessen-Süd und den Liedermacher Wolf Biermann nach dessen Ausbürgerung aus der DDR. Ilja Seifert, Behinderten- und tourismuspolitischer Sprecher seiner Fraktion, hat eine Stasi-Mitarbeit zugegeben. Erwähnt wird auf seiner Homepage aber nur die rund 15-jährige SED-Mitgliedschaft.
Im November 2006 stellte der Immunitätsausschuss des Bundestages eine IM-Tätigkeit des Abgeordneten Roland Claus (IM „Peter Arendt“) als „erwiesen“ fest. Der Politiker aus Sachsen-Anhalt hatte sich damit verteidigt, „abgeschöpft“ worden zu sein. In einem Stasi-Vermerk von Mai 19982 heißt es, Claus „leistete in der bisherigen inoffiziellen Zusammenarbeit eine zuverlässige Arbeit“.
Mit Lutz Heilmann sitzt erstmals ein hauptamtlicher Mitarbeiter des DDR-Geheimdienstes im Bundestag. Er hatte ab 1985 für die MfS-Hauptabteilung Personenschutz gearbeitet, dafür erhielt er 1989 laut einer Besoldungsdatei ein Jahresgehalt von 15.444 DDR-Mark. Seinem heutigen Landesverband Schleswig-Holstein hatte Heilmann dies zunächst verschwiegen. Einen Misstrauensantrag überstand er im Dezember 2005 nur knapp mit 47 gegen 42 Stimmen.
Im Gegensatz zum Bundestag kann das Thüringer Landesparlament eine Stasi-Tätigkeit sanktionieren und Mitglieder für „parlamentsunwürdig“ erklären. Konsequenzen ziehen die Betreffenden aber nicht. Ina Leukefeld (IM „Sonja“) und Frank Kuschel (IM „Fritz Kaiser“), die beide Ausreisewillige bespitzelt haben, weigern sich, den Landtag zu verlassen. Ein Stasi-Schatten liegt laut Akte auch auf den Abgeordneten André Blechschmidt und Ruth Fuchs, einer zweimaligen Speerwurf-Olympiasiegerin. In Sachsen kann – einzigartig in Deutschland – Klage beim Verfassungsgericht erhoben werden, um einem Parlamentarier mit MfS-Vergangenheit das Mandat aberkennen zu lassen. Gelungen ist das noch nie, stets wiesen die höchsten Richter im Freistaat solche Initiativen aus formalen Gründen zurück. Trotzdem hat der Landtag im Dezember 2007 beschlossen, im Fall von Volker Külow (IM „Ostap“) erneut eine Klage zu erheben. Der kulturpolitische Sprecher seiner Fraktion hatte skrupellos Angehörige der Leipziger Universität an die Stasi verraten.
Bundestag Berlin Unstrittig ist die Aktenlage bei dem Chemnitzer Klaus Bartl (IM „Andres Richter“). Der verfassungs- und rechtspolitische Sprecher hatte sich handschriftlich verpflichtet, „alle negativen Erscheinungen einer Feindtätigkeit“ unverzüglich dem MfS zu melden: „Dabei werde ich auf keine Person Rücksicht nehmen.“ Später pflegte Bartl als Staatsanwalt Kontakte mit dem MfS. Sein langjähriger Fraktionschef Peter Porsch, laut Akte als IM „Christoph“ geführt, lässt Behauptungen, er sei Stasi-Agent gewesen, von den Gerichten verbieten. Unterlegen ist er in einem Prozess gegen den grünen Abgeordneten Karl-Heinz Gerstenberg, der Porsch eine „Strategie des Leugnens und Vertuschens“ vorhielt. Das Wort von Abgeordneten genießt besonderen Schutz.
Brandenburger SPD in der Stasi-Frage zerstritten .
Im Brandenburger Landtag ist die Fraktionschefin Kerstin Kaiser als Denunziantin überführt. Als das 1994 bekannt geworden war, musste sie auf ihr Bundestagsmandat verzichten. Jetzt will sie zurück ins hohe Haus. Das „akzeptiere und respektiere ich“, sagte jüngst Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) dazu. Demgegenüber distanzierte sich seine Sozialministerin Dagmar Ziegler (SPD) demonstrativ und erklärte, sie könne sich nicht vorstellen, „mit Politikern am Kabinettstisch zu sitzen, die einst für die Stasi als IM gearbeitet haben“. Bereits Mitte der neunziger Jahre hatte der Brandenburger Abgeordnete Hans-Jürgen Scharfenberg eingeräumt, von 1980 bis 1985 für die Stasi tätig gewesen zu sein. Seiner politischen Laufbahn tat das keinen Abbruch. Heinz Vietze macht aus seiner Spitzelei kein Geheimnis und sagt, er habe nie bestritten, „partei- und systemnah“ zu sein. Im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt mit Margrit Barth eine Politikerin, deren Kooperation mit dem MfS durch eine Schweigeverpflichtung aus dem Jahr 1981 belegt ist.
Dem Landtag von Mecklenburg-Vorpommern gehört Torsten Koplin an, der als IM „Martin“ sechs handschriftliche Berichte an die Neubrandenburger Staatssicherheit lieferte und Geldgeschenke entgegennahm. Schlagzeilen gemacht hat erst vor wenigen Monaten der Fall der Abgeordneten Gudrun Tiedge (IM „Rosemarie“) im Landtag von Sachsen-Anhalt. Ausgerechnet die Ex-SED-Genossin, die nach ihrer Stasi-Karriere dem Regime als Staatsanwältin diente, wollte im Stiftungsrat der sachsen-anhaltischen Gedenkstätten Diktaturgeschichte aufarbeiten. Daraufhin stellten Opferverbände ihre Mitarbeit ein. Doch Tiedge wollte ihren Posten in dem Gremium nicht niederlegen. Um sie loszuwerden, musste der Landtag das Stiftungsgesetz ändern.
UMFRAGE:
Hat die Stasi heute noch Macht in Deutschland?
1. Ja, alte Seilschaften halten und helfen sich immer noch
2. Ja, ehemalige Stasi-Mitarbeiter arbeiten zum Teil in Führungspositionen
3. Nein, die Stasi wurde zerschlagen und ihre Ex-Mitarbeiter sind machtlos
4. Nein, ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurden in vielen Fällen enttarnt
abstimmen Ergebnis
43% Ja, alte Seilschaften halten und helfen sich immer noch
39% Ja, ehemalige Stasi-Mitarbeiter arbeiten zum Teil in Führungspositionen
12% Nein, die Stasi wurde zerschlagen und ihre Ex-Mitarbeiter sind machtlos
6% Nein, ehemalige Stasi-Mitarbeiter wurden in vielen Fällen enttarnt
Aktuell: 1743 Stimmen
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