Zitat von
Sauerländer
Unter einem Mythos verstehe ich eine wirkmächtige, nicht notwendigerweise wahrheitskonforme Vorstellung, aus der eine Gruppe ihr Selbstverständnis schöpft, die weiterhin der unmittelbaren rationalen Kritik entzogen ist.
Nehmen wir als Beispiel aus der Gegenwart den Holocaust als eindringlichstes Beispiel. Dieser Mythos basiert (damit ich hier nicht falsch verstanden werde) auf einem realen Ereignis, nämlich der massenweisen Ermordung einer bestimmten Gruppe. Äußerst unschön (um es vorsichtig auszudrücken), aber keineswegs ein in der Geschichte einmaliger Vorgang. Bereits letzterer Satz jedoch würde mich sofort massiven Angriffen aussetzen, denn er nimmt dem Ereignis gerade das, was es zum Mythos qualifiziert: Die Undiskutierbarkeit.
Alles, wirklich ALLES was als dem "Nie wieder!" dienend verkauft werden kann, gilt damit automatisch als gut und wird von fast allen auch so verstanden, selbst wenn sie in bestimmten Punkten selber Bedenken haben mögen.
Das Christentum als anderes Beispiel bezieht seine Kraft aus dem Glauben an den einen Gott, an dessen Allmacht, an den Auftritt Jesu in der Welt als Gottes Sohn, an seinen Kreuzestod und seine Auferstehung.
Viele Leute heute halten die ETHIK des Christentums für seinen wesentlichen Gehalt und alles andere für nebensächlich, für mehr oder weniger gelungene Bilder, die man rational diskutieren kann und soll, deren genauer Sinn -um etwas zu überspitzen- per Abstimmung festzustellen sei.
Und deshalb ist das Christentum in so weiten Teilen tot, denn ohne den Glauben an die Wirklichkeit Gottes und Jesu Christi berührt die ethische Dimension kaum jemanden, da ist sie nur einer unter endlos vielen Vorschlägen.
Die ethische Dimension des Christentums ist sekundär.
Wir sehen: Ein Mythos basiert in jedem Fall auf einem aussergewöhnlichen Ereignis von einiger erderschütternder Macht. Nach dem Ersten Weltkrieg war es der Mythos vom Frontkämpfer als neuem Menschentypus, dem unter vielen anderen Ernst Jünger so mächtigen Ausdruck verlieh.
Der Mythos ohne Furcht und ohne Blut wird nicht zu haben sein.
Möglicherweise werden es bürgerkriegsähnliche Zustände sein, die die Menschen erstmals wieder zusammenrücken lassen, wobei sie das Wir-gefühl wieder erlernen, das ihnen so komplett verloren gegangen ist.
Ein Mythos hat stets höhere Dimension, deshalb wird es mit dem etwas Dürren Beharren auf dem souveränen Nationalstaat nicht getan sein.
Möglich etwa, dass sich in der Phase der existenziellen Krise und des völligen Versagens der westlichen Liberaldemokratie ein Nebeneinander der Nationalismen in Kombination mit einem Widererstarken des Christentums und einem Relevazgewinn Europas zu einer neuen Variante des Reichsmythos entwickelt.
Wir erinnern uns: Das Reich ist nicht einfach nur ein etwas größerer Nationalstaat.
Es ist der Aufhalter des Weltendes.