Eine bis heute sehr lesenswerte Studie über Struktur, Denkweise und Motivation des antisemitischen Ressentiments hat Jean Paul-Sartre bereits 1944 in seinem Text "Überlegungen zur Judenfrage" (Rowohlt 1994, nach dem ich zitiere) vorgelegt. Ich möchte im Folgenden einige der aus meiner Sicht besonders bedenkenswerten Gedankengänge Sartres' zitieren und kurz besprechen.
1. Sartres Ausgangspunkt ist die Feststellung, daß das antisemitische Engagement "nicht der Erfahrung entspringt" (S. 11). Es handelt sich vielmehr um ein "Engagement der Seele, jedoch so tief und umfassend, daß es auf das Physiologische übergreift wie bei der Hysterie" (ebd.). Aufgrund bloßer Erfahrung wird also niemand Antisemit, vielmehr wird im antisemitischen Denken die Erfahrung bereits in die Bahn der antisemitischen Weltauffassung und Wahrnehmung gelenkt. Der Antisemit konstruiert sich den Juden so, wie es seinen, des Antisemiten Bedürfnissen entspricht, und was immer der Jude tut - er kann das metaphysische Vorurteil nur bestätigen. Handelt er gegen das Vorurteil, dann wird ihm unterstellt er tarne sich oder täusche nur. Handelt er entsprechend dem Vorurteil, wird triumphierend auf ihn gezeigt und der Antisemit fühlt sich bestätigt. Der Jude kann dem Vorurteil des Antisemiten nie entkommen: "Existierte der Jude nicht, der Antisemit würde ihn erfinden" (S. 12).
2. Die "Erfindung des Juden" durch den Antisemiten gibt uns die Frage auf, was denn dort vor aller Erfahrung vorausgesetzt und dem Juden zugeschrieben wird. Sartre benennt dieses Bedürfnis des Antisemiten und seine Rationalisierungen.
Der Antisemit hat für Sartre "eine Urangst vor sich selbst" und "Angst vor der Wahrheit" (S. 15). Er lebt in einer Welt ohne Freiheit, in welcher nicht die Tat und das Handeln zählt, sondern angeborene und unveränderliche Eigenschaften. Antisemiten "haben Angst vor dem Denken" und "möchten eine Lebensweise annehmen, bei der Denken und Nachforschen nur eine untergeordnete Rolle spielen, wo man immer nur nach dem forscht, was man schon gefunden hat, wo man immer nur wird, was man schon war" (S. 15). An die Stelle von Freiheit, Intellekt und Ungewißheit setzt das antisemitische Denken also Determiniertheit, Identität und erfahrungsunabhängige Gewißheit. Die existenzielle Furcht vor der Freiheit führt den Antisemiten somit in eine Haltung, die mit der Vernunft als Produkt menschlicher Geistestätigkeit und Lebenspraxis insgesamt bricht und stattdessen die (vermeintliche!) Natur als die nicht weiter erfassbare Grenze menschlicher Freiheit und Vernunft postuliert. Den Feind seiner naturhaften und vernunftlosen Existenz sieht der Antisemit im Juden als der Verkörperung einer entwurzelnden und ihn bedrohenden Denkweise, die alles Angestammte, Heilige und "Natürliche" in den Sog kritischer Reflexion zieht.
3. Auch Besitzverhältnisse sind dem Antisemiten keinesfalls gesellschaftlich-historische Institutionen menschlicher Freiheit, sondern gerade hier trennt sich sein Eigentumsbegriff von dem "jüdischen":
"Der Antisemit begreift nur eine Art ursprünglicher und erdverbundener Aneignung, die auf einer echten magischen Besitzbeziehung beruht, bei der das besessene Objekt und sein Besitzer durch ein Band mystischer Teilhabe verbunden sind; er ist der Poet des Grundeigentums" (S. 18).
Die faschistische Idee von "Blut und Boden" ist hier mitgedacht, denn die blutsmäßige Zugehörigkeit zu einer ursprünglichen, vor jeder Vernunft und Freiheit bereits konstituierten Gemeinschaft verbindet sich mit dem Boden, dem Grundeigentum dieses naturhaften Kollektivs. Während der Jude profanen Besitz erwirbt und eine entwurzelte Vernunft repräsentiert, verfügt der Antisemit über "magischen Besitz", der ihn zum untrennbaren Teil einer Gemeinschaft von "Blut und Boden" macht. Der Jude steht immer außerhalb dieser magisch-naturhaften Gemeinschaft und ist somit eine ständige Bedrohung für die "ursprünglichen" Bindungsformen des Antisemiten.
"So bekennt sich der Antisemit von Anfang an zu einem faktischen Irrationalismus. Er stellt sich in einen Gegensatz zum Juden wie das Gefühlt zum Verstand, wie das Besondere zum Allgemeinen, wie die Vergangenheit zur Gegenwart, wie das Konkrete zum Abstrakten, wie der Grundbesitzer zum Eigentümer von Immobilien" (S. 19). In ihrer Stellung gegen die Juden nehmen die - meist dem Kleinbürgertum angehörenden - Antisemiten das Bewußtsein an, Eigentümer zu sein. "Indem sie sich den Juden als Dieb vorstellen, versetzen sie sich in die beneidenswerte Position von Leuten, die bestohlen werden könnten" (S. 19). Das "magische" Eigentumskonzept des Antisemiten macht ihn also nicht nur zum imaginär-naturhaften Teil einer Blutsgemeinschaft, sondern auch zum imaginären Besitzer des Heimatbodens. Auch wenn er nichts besitzt - diesen Besitz hat er, und der Jude kann ihn nie erwerben oder ihm streitig machen.
4. Der Antisemit schafft sich also einen "Lustgewinn", indem er durch die Abwertung der jüdischen Vernunft und Freiheit seine eigene Existenz adelt. Er wähnt sich als Teil einer "Elite", die allerdings "ganz im Unterschied zu den modernen Eliten, die auf Verdienst oder Arbeit beruhen, in jeder Hinsicht einem Geburtsadel gleicht" (S. 20). Die "Höherwertigkeit" des Antisemiten ist also "ein Ding" welches ihm ohne eigene Leistung zufällt qua Geburt. Für Sartre folgt aus dieser gesamten Gefühls- und Denkstruktur des Antisemiten, daß ohne den Juden als Gegenprinzip und negativen Kontrast keines der beschriebenen Identitätsmuster des Antisemiten funktionieren könnte. "Wem wäre er sonst überlegen? Mehr noch: gegenüber dem Juden und nur ihm gegenüber kann sich der Antisemit als Träger von Rechten realisieren" (S. 20). Psychoanalytisch gesprochen realisiert der Antisemit also einerseits die Identifikation mit dem Aggressor (nämlich der herrschenden Klasse seines eigenen Landes) und andererseits überträgt er seine eigenen Aggressionen auf eine vollkommen aus seinen Bedürfnissen geformte Projektionsfläche: den Juden. Im Zustand der Entrechtung wählt der Antisemit also nicht den Widerstand gegen die ihn entrechtende Gewalt, er imaginiert sich vielmehr das einzige Recht, das er auch im Zustand der Entrechtung und Knechtung wahrnehmen kann: Nämlich das der Identifikation mit dem Aggressor und die Vernichtung von Vernunft und Freiheit in ihrer wahnhaft halluzinierten Gestalt im Juden.
5. In seinem Haß auf den Juden sublimiert der Antisemit seinen Haß auf die Macht, die seine Welt unfrei und unvernünftig macht. Für ihn ist nicht die Welt schlecht eingerichtet, denn dann müßte er ja zum Herrn über sein eigenes Schicksal werden und die Welt verändern. Stattdessen ist es seine Überzeugung, daß die bestehende Welt nicht neu einzurichten, sondern nur zu "reinigen" (S. 29) ist von dem Schädlichen, das für ihn im Juden zusammengefasst ist. Das Gute besteht also bereits, es muß nur noch von einem klar identifizierbaren "Schädling" befreit werden. An die Stelle der Veränderung von Institutionen tritt also die Vernichtung von Menschen. Sartre resümiert seine Überlegungen so:
"Wir sind jetzt in der Lage, den Antisemiten zu verstehen. Er ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, gewiß: vor sich selbst, vor seinem Bewußtsein, vor der Freiheit, vor seinen Trieben, vor seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit, vor der Veränderung, vor der Gesellschaft und der Welt; vor allem, außer vor den Juden. Er ist ein Feigling, der sich seine Feigheit nicht eingestehen will; ein Mörder, der seine Mordlust verdrängt und zensiert, ohne sie zügeln zu können, und der trotzdem nur (...) in der Anonymität einer Menge zu töten wagt; ein Unzufriedener, der sich nicht aufzulehnen wagt aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung" (S. 35). Das Bekenntnis zum Antisemitismus impliziert somit eine Grundhaltung zur Welt, den Mitmenschen und der eigenen Existenz, die der Antisemit wählt.
"[/b]Mit einem Wort, der Antisemitismus ist die Furcht vor dem Menschsein. Der Antisemit ist der Mensch, der ein unbarmherziger Felsen, ein rasender Sturzbach, ein vernichtender Blitz sein will: alles, nur kein Mensch[/b]" (S. 36).
6. Welche Freunde und Verteidiger haben die Juden eigentlich?
In den Augen Sartres zunächst ganz allgemein die "Demokraten".
Diese "Demokraten" sind liberal gesinnte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, denen der Jude als Jude eigentlich nichts bedeutet, ist seine jüdische Lebensweise doch eine rein private neben beliebig vielen anderen Lebensentwürfen:
Der Demokrat " löst alle kollektiven Formen in individuelle Elemente auf. Ein physikalischer Körper ist für ihn eine Summe von Molekülen, ein sozialer Körper eine Summe von Individuen. Und unter einem Individuum versteht er die einzelne Verkörperung der allgemeinen Züge, welche die menschliche Natur ausmachen " (S. 36). Dem Demokraten entgeht also, daß der Antisemit keine universellen menschlichen Eigenschaften kennt, sondern nur jüdische und nicht-jüdische. Jede Eigenschaft, z.B. Geiz, tritt beim Juden anders auf als bei allen anderen Menschen, eben weil er Jude ist. Der Verweis des Demokraten auf die Universalität der "Geizes" verkennt also die Universalität des Juden (als negatives Prinzip) im antisemitischen Denken und stellt ihn "in den demokratischen Schmelztiegel (...), aus dem er allein und nackt wieder herauskommen wird als ein individuelles und einsames Partikel, das allen anderen Partikeln gleicht" (S. 37).
Während der Antisemit also den Juden "als Menschen vernichten" möchte, will ihn der Demokrat "als Juden vernichten". Selbst der liberalste Demokrat "steht dem Juden feindselig gegenüber, sobald es dem Juden einfällt, sich als Jude zu denken". Die Lage der Juden ist also beständig prekär:
"Der Antisemit wirft dem Juden vor, Jude zu sein; der Demokrat würde ihm am liebsten vorwerfen, sich als Juden zu betrachten. Zwischen seinem Gegner und seinem Verteidiger steht der Jude ziemlich schlecht da: ihm scheint nur die Wahl zu bleiben, ob er roh oder gekocht verspeist werden möchte" (ebd.).
7. Der Jude hat aus Sartres Sicht "leidenschaftliche Feinde und leidenschaftslose Verteidiger" (S. 46). Er ist in der paradoxen Situation, daß er selbst bei bestmöglicher Assimilation und Anpassung immer noch vom antisemitischen Vorurteil verfolgt wird, denn seine Vergangenheit kann nicht vergehen. Verweigert er die Assimilation, steht er aber nicht besser da. "So bleibt der Jude der Fremde, der Eindringling, der Nichtassimilierte innerhalb der Kollektivität. Er kann alles erwerben, und dennoch besitzt er nichts: Denn was man besitzt, sagt man ihm, ist nicht käuflich" (S. 52).
Nach Sartre bleibt den Juden also letztlich nur der wenig erfolgversprechende Versuch der Assimilierung, oder der, als "authentische Juden" zu leben. Da der antisemitische Begriff des "Juden" wie gesehen rein erfahrungsunabhängig und halluziniert ist und der Jude a priorie nie der ihm vom Antisemiten zugeschriebenen Natur entkommen kann, stellt sich die Frage der "Assimilation" gar nicht.
8. Abschließend möchte ich noch die Schilderung der kritischen, universalistischen Vernunft erörtern, welche die "unauthentischen Juden" nach Sartre aus ihrer Situation heraus entwickelt haben.
Der jüdische Rationalismus stellt nämlich eine Art der "Selbstverteidigung" der Juden gegen die irrationale Gewalt ihrer Gegner dar. Der Jude "argumentiert und streitet mit seinem Gegner, weil er von vornherein die geistige Einheit herstellen möchte: er möchte, daß man sich vor jeder Auseinandersetzung über die Prinzipien einigt, von denen man ausgeht. Mittels dieser vorangehenden Einigung schlägt er eine menschliche Ordnung vor, die in der Allgemeinheit der menschlichen Natur begründet ist" (S. 70).
"Während der Antisemit, der Faschist usw. von nicht kommunizierbaren Intuitionen (...) ausgehen und notwendigerweise auf Stärke zurückgreifen müssen, um Erleuchtungen aufzuzwingen, (...) hat der unauthentische Jude nichts Eiligeres zu tun, als durch kritische Analyse alles aufzulösen, was die Menschen trennen und zur Gewalt führen könnte; denn das erste Opfer dieser Gewalt wäre er selbst" (ebd.).
Neben diesem rationalistischen Universalismus des "unauthentischen Juden" gibt es auch den "authentischen Juden", der "an die Stelle des naiven Monismus des unauthentischen Juden einen gesellschaftlichen Pluralismus setzt; er weiß, daß er ABSEITS steht, unberührbar, bloßgestellt, geächtet, und DAZU bekennt er sich" (S. 82). Statt sich vom Antisemiten beständig zum Juden machen zu lassen und dann auf eine universelle Vernunft zu verweisen, macht sich der "authentische Jude" "SELBST und aus eigener Entscheidung ZUM JUDEN" (S: 83). Dieser Jude "ist, wozu er sich macht, mehr ist nicht zu sagen" (ebd.).
9. Die "Judenfrage" bzw. der Antisemitismus ist als Phänomen also unlösbar aus Sicht der Juden und könnte nur von den "Nicht-Juden" gelöst werden.
"Das jüdische Problem ist durch den Antisemitismus entstanden; also muß man den Antisemitismus abschaffen, um es zu lösen" (S. 87).
Als sozialistischer Existentialist konnte sich Sartre die endgültige Beseitigung des Antisemitismus nur als Aufhebung der bürgerlichen Klassengesellschaft selbst vorstellen:
"Deshalb wird in einer klassenlosen und auf das gesellschaftliche Eigentum an den Arbeitswerkzeugen begründeten Gesellschaft, in welcher der Mensch, befreit von den Wahnvorstellungen der Vorzeit, sich endlich in SEINE Unternehmung stürzen wird, die darin besteht, das Reich des Menschen anbrechen zu lassen, der Antisemitismus keinerlei Daseinsgrundlage mehr besitzen: man wird seine Wurzeln gekappt haben" (S. 89).
Van Moorrison