Vor einem Vielteljahrhundert habe ich anlässlich der nicht enden wollenden Kriege und des Staatsterrors in den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens den Spruch "Alles Mörder und Verbrecher" geprägt - sogar auf Arabisch: kulluhum quttal wa mujrimûn :rolleyes: Es war in der Dritten Welt, dem Ostblock und dem Wesen eine Zeit der (noch) starken Staaten. Egal in welcher ideologischen Färbung - der Staat war immer präsent. Nur zu oft auch negativ. Ein Autor brachte es mit den Worten "the state as a terrorist" auf den Punkt.
War nicht auch die Geschichte Deutschlands seit 1871 von starken Staaten und ihrem nur zu oft verbrecherischen Handeln geprägt worden? Ist Staat deswegen nicht ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko und sollte sich die Gesellschaft ohne ihn oder nur mit einem schwachen Staat organisieren?
Schließlich ist die Liste derjenigen lang, die staatliche Macht für grauenhafte Verbrechen "nutzten":
- Adolf Hitler
- Saddam Hussein
- der Ayatollah Chomeini
- Josef Stalin
- Mao Tse Tung
- Pol Pot
- Pinochet und seine rechten Diktatoren-Kollegen der 1960er bis 1980er Jahre in Lateinamerika
- Ulbricht & Honecker und ihre Diktatoren-Kollegen im Ostblock
- Enver Pascha (Völkermord an den Armeniern)
- Idi Amin, der "Irre von Kampala" (Uganda)
- Robert Mugabe, Neostalisnismus reloaded
- die Kim-Dynastie in Nordkorea
Angesichts des Terrors hypertropher Staatsapparate und Staatsideologien kam um 1990 das Konzept der Zivilgesellschaft auf. Es war eine Reaktion auf den Staatssozialismus, wo der Staat dem Bürger unmittelbar und absolut entgegentrat. Der Staat hatte alle gesellschaftlichen Instanzen - Unternehmen und Wirtschaft, Vereine, Vereinigungen und Parteien, Medien - an sich gerissen. So war es in der DDR nicht möglich, einen Verein zu gründen, wenn der Staat das nicht wollte. Schon der Besitz eines Eigenheims konnte als Hochverrat ausgelegt werden und man hatte es dem Staat zu übergeben :rolleyes:
Ich selbst habe neben der DDR und einer Woche Leningrad solche etatistischen Systeme im Nahen Osten kennengelernt. Wo die Menschen teils verdeckt, teils auch offen sagten, dass diese Systeme Scheiße sind und sie sie satt haben. Damals gab es halt noch die Hoffnung auf Verbesserung durch Niederreißen despotischen Etatismus.
Heute haben wir die Hoffnungslosigkeit germane
In allen Welten hat der Einfluss des Staates und etatistischer Ideologien nachgelassen - im Westen durch den Neoliberalismus, der Staatssozialismus im Ostblock ist zusammengebrochen, China und Vietnam sind kapitalistisch, der Kommunismus in Afghanistan brach 1990 zusammen, das ideologisch dem Stalinimus nahestehende Baath-Regime im Irak 2003. Der ehemals die ganze Gesellschaft erfassende starke Staat in Israel hat sich aus Wirtschaft und Gesellschaft zurückgezogen und konzentriert sich ganz auf die Außenbeziehungen, Militär und Krieg.
Wenn die Befürworter der Zivilgesellschaft Recht gehabt hätten, dann müssten wir heute alle herrlich und in Freuden leben. In einer Art anarchokapitalistischem Utopia
Das Gegenteil ist der Fall! Gewalt und Repression sind nicht weniger geworden. Nur sind anstelle von Pinochet bis Assad senior an der Spizte ihrer Staaten greifbarer Urheber - "eine Bombe unter den Arsch!", sagte ein SPDler über Pinochet - viele nicht-staatliche und anonyme Urheber getreten. Im Irak musste 2003 ein Großverbrecher letztendlich nur Platz für viele kleine Verbrecher machen. Ist das vielleicht das "Bauprinzip" der liberalistischen Gesellschaft? Herrschaft und Repression ebenso brutal auszuüben wie Rote und Braune oder rotbraune (Baathisten) Verbrecher. Aber auf viele Instanzen verteilt und von daher für die Opfer nicht einmal mit einer "Bombe unter dem Arsch" greifbar.
Anno 2008 spricht die ach so tolle Zivilgesellschaft jedenfalls vor allem so zu mir:
- nicht enden wollende Hetzdiskurse in den mehrheitlich privaten Medien
- Beleidigungen auf der Straße
- Intrigen und abartiger Bürokratismus
- pseudo-konservative Diskurse, wo verlogene Gemeinschaftlichkeit und falsche Bescheidenheit gepredigt wird
- kaum verhüllter Zynismus ihrer ideologischen Schergen, die zum Beispiel ganz offen sagen, dass sie die Linkspartei als letzte Hoffnugn vieler Menschen korrumpieren wollen
- sie verlangt das begeisterte Mitmachen und hält einen zugleich "draußen"
- Totalitarismus jeder noch so abartigen und rückständigen Art ist eine feine Sache und seine Protagonisten vom Neonazi bis zum Macho-Schläger sind willkommen, solange sie sich an die Regeln des Systems halten und von ihm instrumentalisieren lassen
- das hin- und herschieben oder Leugnen von Verantwortung dafür, dass alles so scheiße läuft, dass der nächste etatistische Ausbruchsversuch nur eine Frage der Zeit ist (siehe Renaissance der Linken in Lateinamerika)
- das Abfeiern eines völlig recht- und einflusslosen Individuums als Ausgangs- und Endpunkt der Vergesellschaftung. Man ist allein für alles selbst verantwortlich und kann gerade dadurch nichts bewirken
- Klassengesellschaft pur mit einer gut durchorganisierten Herrschenden Klasse an der Spitze, der eine Masse vereinzelter oder hilfloser Individuen gegenüber steht
- dabei sind die Individuen ganz oben ebenso austauschbar wie die Masse. Es gibt in keinster Weise mehr eine bei einer Person festzumachende Verantwortlichkeit. Im Etatismus wurden Politiker gehasst, weil sie ihre Macht verbrecherisch nutzten, jetzt werden sie gehasst, weil sie die Hände in den Schoß legen und Verbrechern freie Bahn lassen
- vor zwanzig Jahren hat mal jemand über eine arabische Despotie zu mir gesagt: "Das einzige was hier funktioniert, ist der Geheimdienst. Aber der tut es mit erschreckender Effizienz". Der Wechsel vom Etatismus zur "Zivilgesellschaft" hat dazu geführt, dass vieles heute schlechter funktioniert als vor zwanzig Jahren. Nur der Selbsterhalt des Systems und das so perfekte Neutralisieren von Gegenbewegungen funktionieren mit einer mittlerweile erschreckenden Effizienz.
- Basis des Ganzen ist eine Kombination aus Überlebenskünstler und hinterlistigem Spießer. Spießer, weil er sein Umfeld autoritär kontrolliert und darauf achtet, dass sich alle so verhalten, wie sie sollen. Hinterlistig, weil es ihm da nicht um "Werte" geht, sondern darum, selbst gut da zu stehen, sogar gegenüber Menschen aus dem eigenen Umfeld einen Vorteil zu haben. Überlebenskünstler, weil selbst die Zeiten vorbei scheinen, wo der Spießer noch irgendwelche Werte vortäuschte. Jetzt geht es nur um das Überleben :rolleyes:
- Last but not least hat ein arabisches Sprichwort den Schwindel der Zivilgesellschaft entlarvt. Da heißt es: "Ich gegen meinen Bruder. Ich und mein Bruder gegen meinen Cousin. Ich, mein Bruder und mein Cousin gegen den Rest der Welt."
Was sollen wir da machen? Kapitulieren? Ach ja, das System nimmt keine Kapitulaition an, es verlangt freudiges und begeistertes Mitmachen, da wir ja alle zu nichts gezwungen werden.
Die Irakis, die auch Angst vor seinen Killern Saddam Hussein hoch leben ließen, sind nur eine krasse Überzeichnung hiesiger Zustände, wo alle aus verinnerlichter, nicht mehr bewusster Angst oder Vorteilsstreben die Diskurse des Systems nachplappern. Die Klappe halten, nicht auffallen und Befehle ausführen haben als Überlebenstechniken ausgedient. Schließlich ist man nicht mehr einem mordlüsternen Tyrannen unterworfen, sondern frei
Weil man vor der Freiheit nicht kapitulieren kann, muss man anders mit ihr verfahren. Fragt sich nur, wie.
Neuauflage etatistischer Systeme wie dem Sozialismus in Lateinamerika?
Vielleicht gleich einen Diktator für die ganze Welt, der aus der zum Irrenhaus gewordenen Zivilgesellschaft den Stecker zieht?
Also Herrschaft von der gesellschaftlichen Ebene der KMK - Kleinen und Mittleren Kriminellen - zurück zur staatlichen Ebene der Großverbrecher verlagern?
Abgesehen davon, dass man da vom Regen in die Traufe kommt, droht dann nach einigen Jahrzehnten wieder eine "Demokratiebewegung", die "Bürgerrechtler" machen mobil und der Zyklus zwischen Autoritarismus und Chaos geht in seine nächste Runde.
Schließlich fragt sich, warum im 21. Jahrhundert irgendwelche neoroten Schergen - denn auf die würde es hinauslaufen - beim Strafgericht den Spaß alleine haben sollen. Um danach wie in der SU unter Stalin wieder auf die "Zuschauer" loszugehen :rolleyes:
Läuft es nicht darauf hinaus, nach dysfunktionalen und repressiven etatistischen Systemen ebenso dysfunktionale und repressive Instanzen der Gesellschaft mitsamt ihren Rechtfertigungsideologien auf den Müllhaufen der Geschichte zu schicken. Wenn die Apologeten des status quo Konstruktion mit Zähnen und Klauen bekämpfen und da manches doch wieder nur ein Gefängnis mit Lager- oder Käfighaltung wäre, konzentriert man sich halt auf die Destruktion. Die Subversion um der Subversion willen. Ohne ein Ziel zu proklamieren, dass sich als die Grube erweisen würde, die man sich nicht zum ersten Mal selbst gegraben hat. "Macht kaputt was euch kaputt macht" reicht fürs Erste.