Für eine Erzählung von mir, wo es um Menschen geht, die in die Vergangenheit auswandern und deren Gesellschaft hier als Hintergrund für eine Geschichte mit viel Sex dient, musste ich ein halbwegs plausibles Gesellschaftsystem entwickeln.

Sozusagen "von selbst" bin ich da auf folgende Strukturen gekommen:

Als Basis habe ich die "Kleinfamilie", Mann und Frau (ggfs. nebst Sexaffären) und ihre Kinder genommen.
Die Kleinfamilie ist aber eingebettet in eine Hausgemeinschaft, Großfamilie oder Freundeskreis.

Darüber kommt dann die "Gemeinschaft", die viele Formen annehmen kann und für das Leben der Menschen von zentraler Bedeutung ist. Leben die Menschen in einem Dorf, fungiert das gesamte Dorf zugleich als "Gemeinschaft".
Leben sie in größeren Städten, schließen sie sich Gemeinschaften an, die auf den unterschiedlichsten Kriterien aufgebaut sind. Es gibt Gemeinschaften für Menschen mit den gleichen Berufen (Ärzte, Raumfahrer, Handwerker ...), für Menschen mit besonderer Geschlechtsidentität - Intersexuelle, Transsexuelle - oder auch für Menschen, die ohne Familie sind und sonst keiner Gemeinschaft angehören.

Ganz entscheidend ist: eine Gemeinschaft ist für die verantwortlich, die zu ihnen gehören. Also auch im Sinne von "Arbeiten, Essen, Wohnen sowie Bildung und Gesundheit". Jede Gemeinschaft hat Ressourcen, um ihre Mitglieder dementsprechend zu versorgen. Sie MUSS das auch für die tun, die zu ihr gehören und darf diese Menschen nicht einfach abweisen.

Der Normalfall mag sein: man ist in der Familie versorgt oder hat in einer durchaus freien Wirtschaft sein Auskommen. Aber wenn die Familie zur Katastrophe werden sollte und die (übrige) Wirtschaft es nicht bringt, hat man immer eine Gemeinschaft, die einem hilft - selbst als Gemeinschaftloser, der Gemeinschaftsideologie abholder Individualist

Neben Familien und Gemeinschaften gibt es noch lokale, regionale und für das gesamte Gemeinwesen zuständige Bürgerversammlungen (in der Geschichte heißen sie in Anlehnung an das germanische Wort Ting). Ständige Regierung mit Kabinett und Parlament ist nicht vorgesehen. Für besondere Aufgaben, welche die Ressourcen des gesamten Gemeinwesens erfordern, wählt die Bürgerversammlung einen Bevollmächtigten (in der Geschichte in Anlehnung an den entsprechenden militärischen Rang "Janral" genannt), der so lange amtiert, bis die Aufgabe erledigt ist bzw. er wieder abgewählt wird.

Die Menschen sind darin frei, eine Familie zu gründen oder ihre Familie zu verlassen, mit mehreren oder als Single zu wohnen und sich in der freien Wirtschaft zu versuchen. Sie können als Wissenschaftler Prestige und auch ein höheres Einkommen haben, sie können als Künstler nach Anerkennung streben oder sich damit begnügen, Waldarbeiter zu sein.
Sie existieren nicht einmal in einem - sterilen? - Utopia, weil es in der Geschichte auch recht tragisch zugeht.

Sie leben letztendlich in Freiheit, da sie getreu der Phrase unserer Liberalen "niemand zwingt" und sie auch keine allumsorgende und allmächtige Instanz vor den Leben wie es ist, schützt. Allenfalls ein paar Polizisten - Tingwächter - die den Menschen sagen, bei schweren Unwettern die Fenster zu verriegeln und - außer in bestimmnten Stadtteilen - Sex auf offener Straße unterbinden

Aber

- sie leben ohne einen alles durchdringenden Markt, weil die Gemeinschaften jeden der ihren aufnehmen und versorgen müssen
- es gibt keine Lobbyisten, die denen, deren Interessen sie vorgeblich vertreten, nur sagen, wohin sie als nächstes gehen sollen und dass sie auf "Eigeninitiative" und "Selbstverantwortung" bauen sollen
- es gibt weder Parteien noch Abgeordnete, die sich nur alle vier Jahre bei den Menschen blicken lassen, die sie nur gewählt haben, weil sie sonst keine Alternative hatten
- es gibt weder eine ständige Regierung noch Armeen von Staatsbediensteten, die im neoliberalen Wahn unserer Tage den Leuten auch noch sagen, man solle gefälligst ohne sie auskommen
- es gibt keine verkrusteten und festgefügten Ideologien mitsamt ihren Apparaten, die alles überwuchern und deren Protagonisten ebensowenig für die Menschen zuständig sind wie die anderen Instanzen entfremdeter Herrschaft
- es gibt keine mit dem Stift oder gar dem Lineal durch die Welt gezogenen Grenzen, die letztendlich noch nie ein Übel ausgesperrt, dafür immer freie Menschen eingesperrt und weggesperrt haben

Ist eine solche Welt möglich? Kann man in so einer Gesellschaft leben? Gab es sie mal? Wird es sie wieder geben? Was müssen wir für ihre Verwirklichung tun?