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Thema: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

  1. #1
    עם ישראל חי Benutzerbild von uzi
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    Standard Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Von Dr. Hans Rühle und Michael Rühle

    "Am 25. Februar 1991 beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts in Budapest, das von der Sowjetunion beherrschte Militärbündnis aufzulösen. Zugleich vereinbarten sie, alle wichtigen Dokumente weiterhin geheim zu halten. Ausnahmen sollten nur mit Genehmigung des zunächst weiterbestehenden Oberkommandos und aller Verteidigungsminister möglich sein. Da der Warschauer Pakt wenige Monate später auch physisch liquidiert wurde, verschwand das Oberkommando; und als sich die Sowjetunion und die Tschechoslowakei auflösten, gab es beide Subjekte eines Genehmigungsverfahrens nicht mehr."

    "Diese Lage wurde von den ehemaligen Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts unterschiedlich interpretiert. Während Russland und Polen jede Einsicht in Dokumente rigoros verweigerten, waren die Behörden anderer Staaten - in unterschiedlicher Intensität - bereit, mit seriösen Wissenschaftlern zusammenzuarbeiten und eine Auswahl bisher geheimer Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Es kam hinzu, dass geheime Unterlagen mit dem Beitritt der ehemaligen DDR zur Bundesrepublik Deutschland direkt zugänglich wurden. Die Nationale Volksarmee vernichtete zwar fast alle Papiere, aus denen Erkenntnisse über die strategischen und operativen Kriegsplanungen hätten gewonnen werden können; dennoch gelangten etwa 25 000 einschlägige Dokumente in den Besitz des deutschen Verteidigungsministers. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um Tagungsprotokolle der obersten politischen und militärischen Führung der Nationalen Volksarmee, Vorschriften, Befehle, Berichte und Aufzeichnungen aller Art, sowie Übungs- und Ausbildungsunterlagen, Feindlageberichte und Mobilmachungsunterlagen."

    "Aus diesen Dokumenten ließen sich zwar die operative Planung und die militärische Vorbereitung mit hoher Wahrscheinlichkeit ableiten, das Fehlen konkreter Kriegspläne relativierte jedoch fast zwei Jahrzehnte lang alle Aussagen über die militärischen Planungen des Warschauer Pakts. Dieses Defizit ist nun weitgehend beseitigt. Vor einigen Jahren gab die tschechische Regierung die Unterlagen über die nationale Kriegsplanung wie über die des Warschauer Pakts zwischen 1950 und 1990 frei. Diese Dokumente geben einen so umfassenden Einblick in die Welt der Kriegsvorbereitungen, dass alles Übrige mühelos erschlossen werden kann. Hinzu kommt, dass die echten Kriegspläne in der Regel dicht an den Übungsszenarien liegen, die dem Westen in Ost-Berlin in großer Zahl und vergleichsweise detailliert in die Hände gefallen waren. Damit sind erstmals Aussagen über die tatsächliche Kriegsplanung des Warschauer Pakts möglich. Das wiederum heißt, dass wichtige Fragen über die Zeit des Kalten Krieges nun beantwortet werden können."

    "Die ersten sowjetischen Kriegspläne nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren von der Erinnerung an den deutschen Überraschungsangriff im Jahr 1941 geprägt. Eine Mobilmachung war schon "bei der ersten Erkenntnis über Streitkräftekonzentrationen des Westens" vorgesehen, auch wenn damit eine "vorschnelle Mobilisierung" und deren Folgen in Kauf genommen wurden. Damit war in der sowjetischen Kriegsplanung das Konzept eines "Präemptivkrieges" etabliert. Dieser eröffnete die Möglichkeit, die bewaffnete Auseinandersetzung von Anfang an auf gegnerischem Territorium auszutragen. Das Funktionieren dieser Strategie setzte jedoch starke konventionelle Streitkräfte voraus, mit denen die Kriegsvorbereitungen des Gegners zeitlich unterlaufen werden konnten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verfügte die Sowjetunion über entsprechende Fähigkeiten, die von der Sowjetunion "befreiten" mittel- und osteuropäischen Staaten waren aber nur schwach bewaffnet."

    "Im Januar 1951 forderte Stalin die osteuropäischen Regierungen auf, "in zwei bis drei Jahren" kriegsfähig zu sein. Das überraschte umso mehr, als die Wahrscheinlichkeit eines Krieges mit dem Westen aus Sicht der sowjetischen Führung gering war. In einer Planungsunterlage von 1952 heißt es: "Die westlichen Imperialisten haben derzeit nicht genügend Streitkräfte, um einen militärischen Konflikt zu beginnen." Und an anderer Stelle ist zu lesen: "Die Imperialisten werden keinen Krieg ohne westdeutsche Divisionen beginnen."

    "Die entscheidende Wende in der Kriegsplanung des Warschauer Pakts vollzog sich zu Beginn der sechziger Jahre. Die Sowjetunion "nuklearisierte" ihre Militärstrategie. In Stalins Defensivstrategie hatten Atomwaffen praktisch keine Rolle gespielt. Jetzt führte die Aussicht auf nukleare Gefechtsfeldwaffen zu einer überschwenglichen Bewertung der neuen Möglichkeiten. Atomare Gefechtsfeldwaffen galten als die moderne Artillerie, mit der man sich den Weg durch die feindlichen Kräfte freischießen würde - unbeeindruckt vom ebenfalls nuklearen Feuer des Gegners, unbeeindruckt auch von der Tatsache, in verseuchtem Gelände kämpfen zu müssen. Während die gegnerischen Kräfte im nuklearen Feuer buchstäblich untergingen, schienen die sowjetischen Soldaten unverwundbar zu sein."

    "Diese absurde Phase am Beginn der Neuformulierung der sowjetischen Militärstrategie hat der sowjetische General Larionov später "nukleare Romantik" genannt. Der polnische General Pioro, der an mehreren Übungen teilgenommen hatte, urteilte: "Es war wie im Märchen." Doch für die Planer in Moskau war es bitterer Ernst. Wie die Kriegsplanung jener Jahre zeigt, wären diese Pläne im Ernstfall auch verwirklicht worden: Hamburg etwa sollte mit einer Wasserstoffbombe zerstört werden."

    "Auch wenn diese euphorisch-unreflektierte Sicht schon Mitte der sechziger Jahre überholt war - Atomwaffen spielten in den Planungen eines Kriegs in und um Europa eine zentrale Rolle. Ein wesentlicher Grund dafür lag in der sowjetischen Interpretation des Verlaufs der Kuba-Krise von 1962/63. Ein strategisch-nuklearer Schlagabtausch zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, über den Moskau zuvor lautstark räsoniert hatte, galt plötzlich als nicht mehr beherrschbar, seine Androhung daher als unglaubwürdig. Für möglich und führbar dagegen hielten die sowjetischen Planer einen regional begrenzten Krieg in Europa, ausgefochten mit den Atomwaffen der Supermächte. Auch dieser Krieg stand im Zeichen der Überzeugung, dass er präemptiv geführt werden müsse."

    "In einem geheimen Papier der tschechischen Militärführung wird die Logik des nuklearen Ersteinsatzes exakt beschrieben: "Es gibt nicht einmal eine theoretische Möglichkeit, dass die konventionell erkennbar schwächere Seite . . . auf den Ersteinsatz nuklearer Waffen nur deshalb verzichten würde, weil sie damit gegen das Völkerrecht oder eigene gewachsene Skrupel verstoßen würde . . . Und es ist noch absurder zu glauben, dass der Angreifer solch selbstlos-edles Verhalten des Verteidigers unterstellen würde oder gar erwarten würde, dass der Verteidiger seine ohnehin nachteilige Lage dadurch noch verschlechtern würde, dass er mit dem Einsatz seiner Nuklearwaffen so lange wartet, bis der Aggressor seine Nuklearwaffen einsetzt."

    "Diese Begründung des Ersteinsatzes von Atomwaffen, verbunden mit dem seit Stalin für die sowjetische Militärstrategie konstitutiven Prinzip, einen Krieg durch die frühzeitige Reaktion auf kriegsvorbereitende Maßnahmen des Gegners hin selbst zu beginnen, verdichteten sich zunächst zu einer konsequenten Planung eines atomaren Präemptivkriegs. Einige Verbündete der Sowjetunion vermuteten daher schon damals, dass die Planer in Moskau ein Großmanöver der Nato zum Anlass nehmen würden, um loszuschlagen und zugleich den Angriff mit Atomwaffen auf Ziele in Westeuropa anzuordnen."

    "Die Großübung "Buria" von 1961 spiegelt diesen Ansatz beispielhaft wider. Wie aus einem Sprechzettel des DDR-Verteidigungsministers Hoffmann hervorgeht, ergab sich aus Erkenntnissen der Aufklärung, dass der Westen den Krieg am 6. Oktober um 12.08 Uhr beginnen würde. Dies "beantwortete" der Osten mit einem präemptiven nuklearen Erstschlag schon um 12.05 Uhr, das heißt drei Minuten früher. Dabei sollten 422 nukleare Gefechtsköpfe allein auf westdeutschem Territorium explodieren."

    "Schon die vergleichsweise gut dokumentierte Planung aus dem Jahr 1964 zeigt, dass sich die Interpretation des präemptiven Verteidigungskrieges in der militärischen Praxis mehr und mehr dem präventiven Angriffskrieg näherte. Zwar deutet das Planungsdokument von 1964 in seinen Vorbemerkungen die Möglichkeit eines - operativ nicht nachvollziehbaren - westlichen Überraschungsangriffs unter Einsatz von Atomwaffen an. Doch sagt es alles, dass in der konkreten Kriegsplanung davon nicht die Rede ist und auch keinerlei Folgewirkungen beschrieben werden, sondern angenommen wird, dass der Warschauer Pakt umgehend sein offenbar intaktes Potential an atomaren Gefechtsfeldwaffen einsetzen und überdies aus dem Stand mit voll mobilisierten und uneingeschränkt kampffähigen konventionellen Streitkräften eine offensive Landkriegführung beginnen könne."

    "Wieder einmal zeigt sich hier ein vertrautes Muster sowjetischen Denkens: Alle militärischen Planungen gehen von einer Aggression des Westens aus, diese wird aber als so dilettantisch eingeschätzt, dass sie für die Kriegsführungsfähigkeit des Warschauer Pakts folgenlos bleibt. Die Annahme eines westlichen Atomangriffs war nie mehr als eine Fiktion. Mit anderen Worten: Was der Warschauer Pakt in seiner eigenen Planung rituell als präemptiven Verteidigungskrieg deklarierte, war in der politischen und militärischen Wirklichkeit nichts anderes als die Planung eines präventiven Angriffs gegen die Nato."

    "Der Krieg würde also mit einem atomaren Überraschungsschlag gegen Ziele in Westeuropa beginnen. Das ergibt sich zum einen aus den schriftlich formulierten Aufträgen an die verbündeten konventionellen Streitkräfte, ihre Einsätze unmittelbar nach dem kriegsauslösenden Atomschlag sowjetischer Raketentruppen zu beginnen. Die Schäden, die die Führung des Warschauer Pakts erwartete, zeigten überdies, dass die Nato-Streitkräfte in ihrer Friedensaufstellung überrascht und entwaffnet werden sollten. Der anschließende Kriegsverlauf sah vor, dass die Truppen des Warschauer Pakts derart schnell gen Westen vorstoßen würden. Dieses Konzept würde nur aufgehen, wenn sie nicht mehr mit ernsthaftem Widerstand rechnen müssten. Eile war geboten, ja lebensnotwendig, denn die Truppen mussten das durch den atomaren Erstschlag verseuchte Gelände möglichst schnell überwinden."

    "Erwogen wurde auch eine Variante des atomaren Präventivkriegs. Wie Professor Tsygichko, der zwischen 1962 und 1971 an der Erarbeitung der Kriegspläne in Moskau mitwirkte, jüngst erläuterte, wurde ernsthaft erwogen, dass der Feind "nach einem präventiven Nuklearschlag" kapituliert. Diese Möglichkeit bestand durchaus. Wie führende westdeutsche Militärs Anfang der sechziger Jahre in einer vertraulichen Analyse feststellten, wären nach einem massiven Atomschlag des Warschauer Pakts zusammenhängende, geordnete Verteidigungsoperationen auf westdeutschem Territorium nicht mehr möglich gewesen."

    "Ideologisch bereitete der Präventivkrieg den sowjetischen Planern keine Probleme. Der kapitalistische Erzfeind galt nicht nur generell als aggressiv; es stand auch fest, dass er jede Schwäche des sozialistischen Lagers militärisch ausnutzen würde, um die kommunistische Weltrevolution zu verhindern. Auch der Präventivkrieg gegen den Westen war daher per definitionem ein Verteidigungskrieg."

    "Wie aber stellte sich die Führung des Warschauer Pakts den Krieg gegen die Nato vor? Diese Frage lässt sich gegenwärtig im Detail nur für den Gefechtsstreifen der durch sowjetische Verbände verstärkten tschechoslowakischen Armee beantworten. Diese Region umfasste große Teile Bayerns und Baden-Württembergs bis zur Schweizer Grenze und weiter beiderseits der Achse Straßburg, Epinal, Dijon, Langres, Besançon, Lyon. (Oberbayern und München gehörten zum südlich angrenzenden Frontabschnitt.)"

    "Für den atomaren Überraschungsschlag waren insgesamt 131 Nuklearwaffen vorgesehen. 41 von ihnen sollten die Nato-Truppen vernichten, die zwischen der tschechoslowakischen Grenze und der Linie Würzburg, Erlangen, Regensburg, Landshut stationiert waren. Die restlichen 90 Atomwaffen sollten für die "nuklearen Angriffsmittel" und die Führungszentren der 7. U.S.-Armee zur Verfügung stehen. Abhängig von der Lageentwicklung war der Einsatz von weiteren knapp 100 Nuklearwaffen geplant, um die strategischen und operativen Reserven der Nato zu schwächen und bisher nicht erkannte Atomwaffen der Nato zu zerstören. Am siebten oder achten Tag sollten die Streitkräfte des Warschauer Pakts den Rhein überschritten und den Raum Langres-Besançon erreicht haben. Am neunten Tag sollte Lyon fallen."

    "So viel über den geplanten Ablauf eines Angriffs der Warschauer Pakts im Bereich der "Stoßgruppe Bayern" aus dem Jahr 1964. Weitere reale Kriegsplanungen des Warschauer Pakts für die drei im Norden eingesetzten Stoßgruppen beziehungsweise die den Süden abdeckende "Stoßgruppe Österreich/Bayern" liegen gegenwärtig nicht vor. Bekannt geworden ist lediglich die Absicht, Österreich zu besetzen und die Städte Wien, München, Verona und Vincenza mit Atomwaffen anzugreifen."

    "Der Mangel an Informationen über die Kriegsplanung des Warschauer Pakts für die Mitte und den Norden Deutschlands wiegt allerdings nicht zu schwer. Einerseits lassen sich die Planungen für den Norden aus denen der "Stoßgruppe Bayern" ableiten. Andererseits gibt es Erkenntnisse aus Übungsunterlagen des Warschauer Pakts, die dem deutschen Verteidigungsministerium nach der Auflösung der Nationalen Volksarmee in die Hände gefallen sind. Da die darin geplanten nuklearen Einsätze der "Stoßgruppe Bayern" fast dieselbe Größenordnung haben wie die Zahlen der echten Kriegsplanung von 1964, dürften die Annahmen über die Stoßgruppen 1 bis 3 der Realität recht nahe kommen. Danach waren für den Zielraum Schleswig-Holstein 62, für Ost-Niedersachsen 115 und für den Zielraum Nordkassel 175 Einsätze von Atomwaffen vorgesehen."

    "Diese Zahlen stammen aus Übungen, die während der achtziger Jahre abgehalten wurden. Damit ist zugleich die Frage beantwortet, ob sich die tatsächliche Kriegsplanung nach 1964 wesentlich verändert hat. Die Antwort ist: nein. Petr Lunak, der die Kriegsplanung des Warschauer Pakts auf der Grundlage aller bisher geheimen Unterlagen der tschechoslowakischen Militärführung analysiert hat, stellt fest: "Bis zu Gorbatschows strategischer Revolution setzte der Warschauer Pakt seine bizzare Planung fort, einen Atomkrieg in Europa zu führen und zu gewinnen."

    "Dies heißt nicht, dass es über die Strategie des präventiven, begrenzten Nuklearkriegs in Europa keine Diskussionen gab. Es gab sie reichlich, insbesondere in den Führungszirkeln der Verbündeten Moskaus - waren es doch polnische oder tschechoslowakische Soldaten, die als Spitze der jeweiligen Stoßgruppen das größte Risiko in stark verseuchtem Gelände zu tragen hatten. Überdies konnte auch ein atomarer Überraschungsschlag nicht die nukleare Entwaffnung der Nato garantieren. Es musste daher mit nuklearen Gegenschlägen auf das Gebiet der mittel- und osteuropäischen Staaten gerechnet werden. Doch diese Diskussionen blieben letztlich folgenlos. In nuklearen Fragen hatten die Verbündeten kein Mitspracherecht. Erst 1986 gewährte Gorbatschow ihnen dieses Recht."

    "Natürlich gab es auch innerhalb der sowjetischen Militärführung Debatten über militärstrategische Fragen und die konkrete Kriegsplanung. Das ergibt sich aus den Memoiren ehemaliger hoher Offiziere. Der grundlegende Ansatz wurde jedoch nicht geändert. Die Wende kam erst mit Gorbatschow im Lauf des Jahres 1986. In seinem Beisein sagte der polnische Staatspräsident Jaruzelski: "Niemand soll glauben, dass man in einem Nuklearkrieg nach fünf oder sechs Tagen in Paris eine Tasse Kaffee schlürfen kann." Danach forderte er eine umgehende Änderung der Kriegspläne. So kam es dann auch. Nur die NVA arbeitete auf alter Grundlage weiter. Noch in der Übung "Stabstraining 1989" plante sie die Verwüstung weiter grenznaher Landstriche Schleswig-Holsteins durch 76 teilweise großkalibrige Atomwaffen."

    "Nach der Öffnung der tschechischen Archive kann es keinen ernsthaften Zweifel mehr geben: Der Warschauer Pakt plante einen präventiven, regional begrenzten Atomkrieg in Europa. Daran mag in der politischen und militärischen Führung der Nato-Staaten mancher albtraumhaft gedacht haben. Der Verteidigungsplanung der Nato lagen jedoch andere Annahmen über die vermutliche Kriegsführung des Warschauer Pakts zugrunde. Alle Planungen gingen von einem Angriff des Warschauer Pakts mit konventionellen Streitkräften aus. Der Ersteinsatz von Atomwaffen durch die Nato war erst für den Fall vorgesehen, dass der Westen hohe Gebietsverluste erlitte. Die große Sorge galt daher zunächst der Möglichkeit, dass der Warschauer Pakt durch den Einsatz überlegener konventioneller Kräfte rasch nach Westen vorstoßen, die atomare Infrastruktur der Nato zerstören und damit die nukleare Ersteinsatzoption unterlaufen könnte."

    "Natürlich erkannten die Nato-Planer schon frühzeitig, dass es wahrscheinlich zu einem nuklearen Ersteinsatz durch den Warschauer Pakt kommen würde. Eine rationale Reaktion konnte dann aber nur noch - wenn man nicht kapitulieren wollte - in der Drohung mit einer Eskalation liegen. Das wiederum hätte einen nach Zeit und Intensität unkalkulierbaren atomaren Schlagabtausch in Mitteleuropa bedeutet. Dieses Szenario eines vom Gegner provozierten Atomschlags, auf den nur mit einer nuklearen Eskalation reagiert werden konnte, war in der Öffentlichkeit der Bundesrepublik jedoch zu keiner Zeit zu vermitteln. Die westliche Militärstrategie musste eben nicht nur "deterrence" - Abschreckung - gegenüber dem Gegner bieten, sondern auch "reassurance" - Vertrauen in die Wirksamkeit nach innen - erzeugen."

    "Angesichts dieses Dilemmas blieb den politisch Verantwortlichen nichts anderes übrig, als eine zunächst ausschließlich konventionelle Bedrohung ins Zentrum ihrer Planung zu rücken. Ein atomarer Ersteinsatz war zwar fester Bestandteil der Nato-Planung, im stillen Einverständnis mit der Bevölkerung wurde eine öffentliche Thematisierung jedoch vermieden. Mit anderen Worten: Die Strategie der Nato orientierte sich nicht primär an der tatsächlichen Bedrohung, sondern an dem, was öffentlich als zumutbar erschien."

    "Der Führung des Warschauer Pakts war dieses Dilemma des Westens sehr wohl bekannt. Sie kannte auch alle Geheimnisse der Nato-Planung. Der Chef der Aufklärung der NVA hatte schon 1973 aus seinen Erkenntnissen über die Wintex-Übungen der Nato über "eine noch größere Abstufung des Kernwaffeneinsatzes spätestens nach 100 km Eindringtiefe der Truppen des Warschauer Pakts" geschrieben. Und aus einem internen Papier des stellvertretenden Chefs der Aufklärung General Gottwald für seinen Minister aus dem Jahr 1988 ergibt sich, dass die Vorstellungen der DDR über einen möglichen selektiven Einsatz von Atomwaffen durch die Nato durchaus realistisch waren."

    "Warum sollte der Warschauer Pakt also in einem Krieg in Europa warten, bis die Nato, konventionell in jedem Fall in Bedrängnis, als Erster Atomwaffen einsetzen würde, wenn die Möglichkeit bestand, durch einen frühzeitigen eigenen nuklearen Ersteinsatz die Nato zumindest teilweise nuklear zu entwaffnen? Warum sollte der Warschauer Pakt trotz seiner konventionellen Überlegenheit überhaupt einen konventionellen Beginn des Krieges planen, wenn durch einen in jedem Falle notwendigen nuklearen Einsatz der Nato der Krieg ohnehin immer ein nuklearer werden würde? Warum sollte der Warschauer Pakt nicht von vornherein den nuklearen Überraschungsangriff planen, wenn damit die Chance bestand, die nukleare Infrastruktur der Nato weitgehend zu zerstören und die konventionellen Streitkräfte der Nato entscheidend zu schwächen? Warum also kein nuklearer Präventivkrieg, wenn man in Moskau sicher war - und durch demonstrativ regional begrenzten nuklearen Ersteinsatz zu signalisieren beabsichtigte -, dass ein begrenzter Nuklearkrieg in Europa möglich war? Warum sollte man die ideologisch unvermeidliche kriegerische Auseinandersetzung mit dem kapitalistischen System nicht zu einem Zeitpunkt suchen, zu dem die Korrelation der Kräfte für den Warschauer Pakt sprach, weil die kapitalistischen Staaten ihre technologische Überlegenheit noch nicht konsequent - wie später durch Ronald Reagans "Strategische Verteidigungsinitiative" (SDI) schmerzhaft empfunden - für eine überlegene Kriegsführungsfähigkeit genutzt hatten?"

    "Die Antworten auf all diese Fragen führen zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass die Konzeption des präventiven regionalen Nuklearkriegs in Europa aus sowjetischer Sicht durchaus rational war. Warum aber brach ein Krieg zwischen West und Ost dennoch nicht aus? An der sowjetischen Militärführung lag es bestimmt nicht. Sie war dazu nicht nur allzeit bereit. Zwischen 1975 und 1985 häuften sich auch ihre Forderungen, der erwarteten technologischen Überlegenheit des Westens mit einem Präventivkrieg zu begegnen. Im September 1982 verglich Marschall Ogarkow bei einem Treffen der Generalstabschefs des Warschauer Pakts die politische Situation mit der Zeit vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges. In Wirklichkeit hätten "die USA der Sowjetunion und ihren Verbündeten den Krieg bereits erklärt"."

    "Dass der Kalte Krieg nicht heiß wurde, war die Entscheidung der politischen Führung der Sowjetunion. Über die Motive kann nur spekuliert werden. Da wenig Hoffnung auf die Öffnung der einschlägigen Archive in Russland besteht, wird man es vielleicht nie erfahren. Es spricht aber einiges dafür, dass die Sowjetunion sich eben doch nicht sicher sein konnte, angesichts der massiven amerikanischen konventionellen und nuklearen Präsenz einen Krieg auf Europa beschränken zu können. Ein positives Urteil über die politische Führung der Sowjetunion ist dennoch nicht angebracht. Immerhin hatte sie einer realen Kriegsplanung zugestimmt, die Westeuropa durch den Ersteinsatz von weit mehr als 1000 Nuklearwaffen in Schutt und Asche gelegt und weite Teile für Jahrzehnte unbewohnbar gemacht hätte."

    ***

    Hans Rühle war Ministerialdirektor im Bundesministerium der Verteidigung. Michael Rühle leitet das Planungsreferat der Politischen Abteilung der Nato in Brüssel.

    Text (auszugsweise): F.A.Z., 13.08.2008, Nr. 188 / Seite 7

    Unglaublich was in den Köpfen der Russen vorging / vorgeht...

  2. #2
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von uzi Beitrag anzeigen
    Von Dr. Hans Rühle und Michael Rühle

    Hans Rühle war Ministerialdirektor im Bundesministerium der Verteidigung. Michael Rühle leitet das Planungsreferat der Politischen Abteilung der Nato in Brüssel.

    Text (auszugsweise): F.A.Z., 13.08.2008, Nr. 188 / Seite 7

    Achso.
    Ob die solche Propagandaübungen von der Steuer absetzen können?


    Es ist immer wieder schön zu beobachten, wie unsere Hochverräter lügen können, vor allem wenn es darum geht, einen neuen Kalten Krieg anzuzetteln, weil die USA und EU total pleite sind.


    Ob diese Leute wissen, daß die USA nach 45 insgesamt 4 Atomkriege geführt hat und einen 5. vorbereitet, während Israel immerhin schon einen geführt hat (inklusive chemischer Waffen).


    Aber Russland hat Pläne für einen Krieg in der Hinterhand gehabt... das ist ja viel schlimmer!

  3. #3
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von uzi Beitrag anzeigen
    Von Dr. Hans Rühle und Michael Rühle

    "Am 25. Februar 1991 beschlossen die Außen- und Verteidigungsminister der Mitgliedstaaten des Warschauer Pakts in Budapest, das von der Sowjetunion beherrschte Militärbündnis aufzulösen. Zugleich vereinbarten sie, alle wichtigen Dokumente weiterhin geheim zu halten. Ausnahmen sollten nur mit Genehmigung des zunächst weiterbestehenden Oberkommandos und aller Verteidigungsminister möglich sein. Da der Warschauer Pakt wenige Monate später auch physisch liquidiert wurde, verschwand das Oberkommando; und als sich die Sowjetunion und die Tschechoslowakei auflösten, gab es beide Subjekte eines Genehmigungsverfahrens nicht mehr."

    ###gekürzt###

    "Dass der Kalte Krieg nicht heiß wurde, war die Entscheidung der politischen Führung der Sowjetunion. Über die Motive kann nur spekuliert werden. Da wenig Hoffnung auf die Öffnung der einschlägigen Archive in Russland besteht, wird man es vielleicht nie erfahren. Es spricht aber einiges dafür, dass die Sowjetunion sich eben doch nicht sicher sein konnte, angesichts der massiven amerikanischen konventionellen und nuklearen Präsenz einen Krieg auf Europa beschränken zu können. Ein positives Urteil über die politische Führung der Sowjetunion ist dennoch nicht angebracht. Immerhin hatte sie einer realen Kriegsplanung zugestimmt, die Westeuropa durch den Ersteinsatz von weit mehr als 1000 Nuklearwaffen in Schutt und Asche gelegt und weite Teile für Jahrzehnte unbewohnbar gemacht hätte."

    ***

    Hans Rühle war Ministerialdirektor im Bundesministerium der Verteidigung. Michael Rühle leitet das Planungsreferat der Politischen Abteilung der Nato in Brüssel.

    Text (auszugsweise): F.A.Z., 13.08.2008, Nr. 188 / Seite 7

    Unglaublich was in den Köpfen der Russen vorging / vorgeht...
    Für Kenner ist Obiges keine Überraschung. Bereits die Stationierung der sowjetischen Truppen in der DDR und Tschechoslowakei deutete diese Absicht an. Die NATO-Planungen gingen ebenfalls davon aus. :]
    Geändert von bernhard44 (19.08.2008 um 15:19 Uhr)
    Ich stehe hier, ein Herkules mit Fackeln! Sie sollen lodern, leuchten, knistern und auch knackeln!
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  4. #4
    עם ישראל חי Benutzerbild von uzi
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von Mark Mallokent Beitrag anzeigen
    Für Kenner ist Obiges keine Überraschung. Bereits die Stationierung der sowjetischen Truppen in der DDR und Tschechoslowakei deutete diese Absicht an. Die NATO-Planungen gingen ebenfalls davon aus. :]
    Ich scheine kein (Russland-)Kenner zu sein, in dieser deutlichen Dokumentation war mir die "präemptive Nuklearstrategie" nicht bekannt...

    Dass die Nato-Planungen exakt von diesem Szenario ausgingen, kann ich mir nicht vorstellen. Der Nato-Doppelbeschluss '79 ist zwar ein Indiz dafür, jedoch nicht ansatzweise eine erkennbare Gegenstrategie zu einem detailliert geplanten Nuklearkrieg.

  5. #5
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Ich las da während meiner Bundeswehrzeit einen Roman, verfaßt von einem Nato-General, der exakt obiges Szenario zugrundelegte. Am Ende hat dann aber die NATO gewonnen. WEnn mir nur der Name des Autors einfiele. :]
    Ich stehe hier, ein Herkules mit Fackeln! Sie sollen lodern, leuchten, knistern und auch knackeln!
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  6. #6
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Ich koennte hierzu einiges sagen, darf es jedoch nicht.

  7. #7
    עם ישראל חי Benutzerbild von uzi
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von Haspelbein Beitrag anzeigen
    Ich koennte hierzu einiges sagen, darf es jedoch nicht.
    ...die Freiheit des Wortes!

  8. #8
    Vorstand der Stammchatter Benutzerbild von Mark Mallokent
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von Haspelbein Beitrag anzeigen
    Ich koennte hierzu einiges sagen, darf es jedoch nicht.
    Sag einfach, ich hätte es dir befohlen. :]
    Ich stehe hier, ein Herkules mit Fackeln! Sie sollen lodern, leuchten, knistern und auch knackeln!
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  9. #9
    AfD, was denn sonst ?! Benutzerbild von Bruddler
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Zitat Zitat von Haspelbein Beitrag anzeigen
    Ich koennte hierzu einiges sagen, darf es jedoch nicht.
    komm' trau Dich, wenn nötig, kannst Du dir auch etwas Mut antrinken ! :]
    >>> DEM DEUTSCHEN VOLKE <<<

  10. #10
    Mitglied Benutzerbild von Rowlf
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    Standard AW: Präventiver Nuklearkrieg in Europa

    Atomschläge wurden sowohl von der NATO, wie auch vom Warschauer Pakt ernsthaft in Erwägung gezogen. Wahrscheinlich können wir nicht einmal erahnen, wie oft wir schon am Abgrund standen.
    ...Hast du Ideen, oder haben Ideen dich?...

    Linksfraktion und Feminist


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