Jetzt, wo der Kapitalismus seinem Ende entgegen geht, mag es seltsam erscheinen, sich mit dem Scheitern des Sozialismus zu beschäftigen. Ich halte das aus drei Gründen aber gerade jetzt für zwingend:
1. Die Leute, die sich Anno 2008 als Schergen, Büttel und Nutznießer des kapitalistischen Systems gerieren, würden sowohl von ihrer Denkweise als auch den ausgeübten Tätigkeiten auch ganz gut in ein stalinistisches System passen. Der Staatssozialismus ist seit 20 Jahren Geschichte, aber ich habe den Eindruck als ob die "Sieger der Geschichte" aus seinen Fehlern nichts gelernt haben, sondern auf dem "besten" Wege sind, sie zu wiederholen.
2. Der Frust über den Staatssozialismus hat zwischen Magdeburg und Wladiwostok viele zu strammen "Kapitalisten", Liberalen oder gar Rechten gemacht. Blödsinn X( - vom Regen in die Traufe und "from bad to worse"!
Es ist aber nichts gewonnen, wenn wir Westler aus Frust über den Kapitalismus, dessen Schattenseiten wir besser als die Ossis kennen, nun in die entgegengesetzte Richtung rennen und den Staatssozialismus einführen wollen.
3. Als der Sozialismus zu Grabe getragen wurde, hieß es über den Kapitalismus, er stände am Grab des Sozialismus wie jemand, der selbst todkrank ist. Diese Prognose hat sich seitdem erschreckend bewahrheitet. Seit den 1990ern sind Politik und Wirtschaft immer mehr hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben und haben ein System geschaffen, das im Grunde niemandem nutzt. Jetzt knallen in der Finanzkrise die Geldblasen und man kann auf das schon beim Ende des Sozialismus avisierte Szenario hoffen: dass ihm der Kapitalismus ins Grab folgt und sich die Menschheit neue Vergesellschaftungsformen sucht. Anstatt den Sozialismus aber wieder aus dem Grab zu holen, würde ich lieber den Grabstein erneuern und Blumen (oder gelbe Luftballons) auf das Grab des Kapitalismus legen
Also: warum ist der Sozialismus gescheitert?
Erklärung 1
Extreme Machtkonzentration.
Systeme wie die SU unter Stalin und Rotchina unter Mao dürften zu den autoritärsten Strukturen der Menschheitsgeschichte gehören. Die Zentralregierung hatte sowohl aufgrund ihrer instutionellen Struktur als auch der technischen Möglichkeiten eine Machtfülle, der die oft in ärmlichen Verhältnissen lebende Bevölkerung nichts entgegen zu setzen hatte. "Macht korrumpiert - absolute Macht korrumpiert absolut" - ist es nicht so gekommen.
Erklärung 2
"Die Partei hat immer Recht!"
Parteien sind selbst im Westen, wo sie rudelweise auftreten und sich zumindest in der Theorie gegenseitig in Schach halten, oft verhasst. Nicht zu Unrecht sieht man in ihnen Gebilde, denen es nur um Macht und Pfründe für ihre Kader geht. Intrigen, Verschwörermentalität und Korruption prägen nur zu oft das Bild der Parteien. Ihre Führer werden nicht selten von denen, die jede Autorität ablehnen als auch jenen, die gern richtige Führung hätten, gleichermaßen verachtet. Weil sie schlichtweg zu billig sind und zu oft an das Schlechte im Menschen appellieren.
Im Sozialismus nun gab es zwar nur eine Partei, aber die hatte halt immer Recht und ihre Strukturen durchzogen die ganze Gesellschaft.
Erklärung 3
Der Staat als alleiniger Bauer und Unternehmer
Wirtschaftlich war im Sozialismus der Staat als einziger Bauer und Unternehmer aktiv und duldete keinerlei Konkurrenz neben sich. Sei es in der Industrie, der Landwirtschaft oder den Dienstleistungen. Das hat zu zwei Dingen geführt:
- jene unerträglichen Allüren, Gier und Arroganz, die im Westen den privaten Unternehmen vorgeworfen wird, hat sich im Sozialismus die staatliche Nomenklatura geleistet
- das kreative Potenzial "an der Basis" wurde total entmutigt. Seine Freiräume im Kapitalismus dürfen zwar nicht überschätzt werden, weil Big Business mit Hilfe von Big Government nur zu gern lästige Konkurrenten austrocknen lässt. Aber im Sozialismus gab es das kreative Potenzial, was oft aus kleinen Anfängen kommt, erst gar nicht. Ein Freund hat mir mal erzählt, wie er zu Sowjetzeiten durchs Baltikum irrte und es nirgendwo eine Gastwirtschaft gab Ein Sowjetbürger hat die damalige SU so beschrieben: das Geld liegt auf der Straße, aber wer sich danach bückt, wird bestraft.
Erklärung 4
Ein absurdes Menschenbild, wo alter Wein in neue Schläuche gegossen wurde.
In der Zeit vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er Jahre hinein gab es zusammen mit dem Aufkommen der Psychologie als Wissenschaft Bestrebungen, diese nicht nur für den Einzelnen, sondern auch die Gesellschaft fruchtbar zu machen. Zusammen mit dem Einzelnen sollte auch die Gesellschaft von kollektiven Neurosen geheilt werden.
Bezeichnenderweise wurden diese Bestrebungen von Nazis und Stalinisten gleichermaßen vereitelt. Anstelle eines von seinen Neurosen oder tradierten seelischen Verkrüpplungen geheilten und freien Menschen in einer freien Gesellschaft war von Hitler bis Mao der "neue Mensch" vor allem eines: gehorsamer Untertan! Man hätte für die Führung zu leiden und zu sterben, fertig aus! So wurden im Sozialismus zwar die übergreifenden Strukturen - Zarentum, Bürgertum, Kapitalismus, Kirche - exterminiert. Der Mensch selbst wurde aber so belassen, wie er war: nach oben buckeln, nach unten treten, sich an die Autoritäten anpassen und ihre Diskurse nachplappern, durch Korruption nach oben kommen. Ein Freund von mir hat das bei Jelzin mal so beschrieben: der Patriarch in der Familie, der Patriarch im Rayon (Provinz) und immer "hoch die Tassen", bis er Alkoholiker war. Nastrowje! Das autoritäre Arschloch alter Schule war auch im Sozialismus angesagt, kam in ihm voran und brachte ihn schließlich zu Fall, weil es selbst nicht daran glaubte.
Erklärung 5
Größenwahn!
Sowohl in Russland als auch in China gelang der sozialistische Umsturz, weil die kapitalistische Entwicklung gescheitert war. Zar Nikolaus hat sich als Volldepp erwiesen und die bürgerliche Republik in China 1912-1948 war mehr oder weniger ein Horrortrip für die Menschen.
Ein halbwegs kluger Mensch hätte daraus zwei Schlüsse gezogen:
1. der marxistische Geschichtsfahrplan Feudalismus-Kapitalismus-Sozialismus funktioniert so nicht, weil die SU und China am Übergang zwischen Feudalismus und Kapitalismus gleich zum Sozialismus übergingen
2. die sozialistischen Ländern haben den Sozialismus unter so katastrophalen Bedingungen angenommen, dass sie gegenüber erfolgreichen kapitalistischen Staaten bestenfalls eine Alternative, aber kein überlegenes Modell sind
3. Man muss zwar rabiat defensiv sein, weil die "Kapitalisten" Schweine sind, die nichts lieber hätten als eine zünftige Konterrevolution, aber sollte auf gewaltsamen Export des Systems verzichten.
Was hat den Russen der Supermacht-Status gebracht außer Millionen Kriegstoten und leeren Regalen? Vermutlich war der Rüstungswettlauf das, womit die USA die SU wirksamer zu Fall brachten als mit einem gegen sie nicht mehr führbaren Krieg.
Erklärung 6
Zu viel Rot!
Sowohl die SU als auch Rotchina brachten ihre Revolution dadurch zum Ausdruck, dass sie das Symbol einer Ideologie - die rote Fahne - flaggentechnisch zum Symbol ihres Staates und der nationalen, volksmäßigen Identität machten.
Da wäre weniger mehr gewesen, vor allem, wenn man bedenkt, dass irgendwann wohl keine mehr an diese Ideologie glaubte.
Die Symbole und Protagonisten von Zarenherrschaft zu beseitigen, mag unerlässlich gewesen sein, aber ich habe da den Eindruck, als ob die Bolschewiken daraus einen Amoklauf gegen große Teile der russischen Kultur machten. Ihr Sozialismus sollte Russland quasi ersetzen - ihn als neue Phase der russischen Geschichte anzusehen wäre ehrlicher gewesen.
Erklärung 7
"Zum Lachen gehst du in den Keller, Genossin!"
und wirst dann im Keller erschossen, weil die Partei immer Recht hat und keine anderen Meinungen duldet X( ! Wie viele Geschichten gibt es über eine geradezu absurde Missachtung des Einzelnen und seiner Rechte im Sozialismus zu erzählen? So viele wie Menschen unter diesem System gelebt haben? Zum Beispiel diese: "Du darfst nicht mit auf Dienstreise nach Moskau, weil du schwul bist."
Erklärung 8
"Ihr seid nicht links!"
Das hat ein italienischer Genosse den Genossen aus der DDR vorgeworfen, als er in die Mühlen ihres Systems geriet. Die Schergen haben ihm daraufhin den Spitznamen "links" gegeben. Wenn sich Nicht-Linke aufgrund des Treibens der vorgeblich Linken im Sozialismus voll Ekel davon abweenden, "Dienst nach Vorschrift" machen und lieber auf Karriere verzichten als so einer Karikaturpartei wie der SED beizutreten ist das auch ganz in Ordnung. Aber ich habe bei manchen Pfeifen im Apparat den Eindruck, dass da Leute am lautesten "Sozialismus" gekräht haben, die alles waren - nur nicht links. Nach dem Zusammenbruch kamen dann die geistigen Ratten aus den Löchern und waren plötzlich stramme Neoliberale oder Rechtsextreme.