Bei Diskussionen in diesem Forum fällt mir immer wieder auf, wie sehr die Mehrzahl der Foristen die Vergangenheit und frühere Epochen verklärt. Werfe ich dann mal einen flüchtigen Blick auf die "gute alte Zeit" und ihre Protagonisten, kann ich nur den Kopf schütteln. Grauenhaft X( ! Die Massen lebten in mehr oder weniger bitterer Armut und nur kleine Eliten hatten Zugang zu jenen materiellen und geistigen Annehmlichkeiten, die sich heute in den Industrieländern so gut wie alle leisten können.
Höhere Moral? - Fehlanzeige! Ich sehe da in der Geschichte nur einen Reigen grausamer und herzloser Arschlöcher, verglichen mit denen selbst Bush ein Heiliger ist.
Weniger Anomie? Ich wage die Behauptung, dass die Zeit des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland die Zeit der mit Abstand größten Anomie und des größten Chaos war.
Ich habe das Gefühl, viele Foristen fallen da auf die schönen Bilder der Fürsten und Fürstinnen rein, sehen nur Schlösser und Burgen wie in irgendwelchen Kitschfilmen oder glauben, zur Kaiserzeit hätte alle in einer schnuckeligen Gründerzeit-Villa gewohnt.
Die Wirklichkeit vor einigen hundert Jahren war eher so: Frauen starben infolge der vielen Geburten schnell an Auszehrung und viele ihrer Kinder erlebten das Erwachsenenalter auch nicht. Wenn das Essen nicht reichte, fütterten Bauernfamilien nur den "Stammhalter", damit wenigstens einer kräftig war, ohne Folgen von Unterernährung groß wurde und den Hof übernehmen konnte. Hunger und Kälte schwächten viele Menschen, Krankheiten und Seuchen hatten dann leichtes Spiel.
Kultur und Zivilisation allein auf Muskelkraft aufzubauen, erwies sich immer wieder als Fiasko: die Mehrheit musste schindern, Vorteile hatte nur eine Minderheit.
Wie auch immer man die jetzige Epoche bewerten kann (und sie kommt bei mir nicht gut weg), vor ihr geistig oder gar politisch in die Vergangenheit zu flüchten halte ich für verhängnisvoll. War nicht die Vergangenheit das, dem die Gegenwart folgte? Haben nicht die Protagonisten vergangener Zeiten alles getan, damit es so wird wie es ist?
Warum lebt ihr also in der Vergangenheit?