9,1 Millionen Arbeitslose in Deutschland
Zum ersten Mal gibt es in Deutschland fünf Millionen Arbeitslose – weil die Statistik jetzt die wahre Lage zeigt, behauptet Wolfgang Clement. Dabei ist die wahre Arbeitslosigkeit noch viel höher.
Wolfgang Clement gibt den Ehrlichen in einer verlogenen Welt. „Jetzt kommt die Wahrheit ans Licht“, tönte er im Vorfeld der Veröffentlichung der Arbeitslosenzahlen. „Die Zeit der Dunkelziffern und Verschiebebahnhöfe ist vorbei.“ Seine Botschaft: Nur weil die Bundesregierung den Mut aufbringt, die Lage am Arbeitsmarkt ungeschminkt zu präsentieren, steigt die Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen im Januar zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands auf mehr als fünf Millionen.
Dass die Arbeitslosenzahl im Januar auf die Horrormarke von 5,037 Millionen gestiegen ist, war bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht offiziell bestätigt. Klar ist aber, Clements Arbeitsmarkt-Glasnost ist ein peinlicher Etikettenschwindel nach dem Motto: Am einen Ende der Statistik etwas offen legen und viel darüber reden, am anderen Ende aber umso mehr verschleiern und darüber schweigen.
Richtig ist, dass durch die Hartz-IV-Reform 200.000 bis 300.000 erwerbsfähige Sozialhilfeempfänger erstmals in der Statistik auftauchen dürften, die dadurch etwas wirklichkeitsnäher wird. Gleichzeitig jedoch hat Rot-Grün die aktive Arbeitsmarktpolitik, mit deren Hilfe Arbeitslose auf Staatskosten von der Straße und damit auch aus der Statistik geholt werden, auf neue Höchststände getrieben. Nach Berechnungen der Stiftung Marktwirtschaft nahm die Zahl der Arbeitslosen, die in Maßnahmen der Bundesagentur für Arbeit (BA) versteckt werden, seit Anfang 1999 – also kurz nach Amtsantritt Gerhard Schröders – von damals 1,27 Millionen auf mittlerweile rund 1,4 Millionen zu.
Schönrechnerei
Weit davon entfernt, die wahre Arbeitslosigkeit offen zu legen, versucht die Bundesregierung ihr Versagen im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu kaschieren. Zwar wurden die Instrumente wie die traditionellen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen etwas zurückgefahren, die nur wenig zur Eingliederung von Arbeitslosen in den ersten Arbeitsmarkt beitragen. Dafür schoss die Zahl der von den Arbeitsagenturen geförderten Arbeitslosen, die sich als Ich-AG selbstständig machen, in die Höhe – 220.000 davon gab es Ende vergangenen Jahres: Statistik entlastet, Erfolg höchst ungewiss.
Nach dem Motto soll es auch weitergehen: Standen Ende vergangenen Jahres rund 75.000 so genannte Ein-Euro-Jobs zur Verfügung, sollen es nach dem Willen Clements in diesem Jahr bis zu 600.000 werden. Die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenzahl würde sich entsprechend verringern. „Ein arbeitsmarktstatistischer GAU“, sagt Guido Raddatz von der Stiftung Marktwirtschaft.
Auf grund der Schönrechnerei liegt die tatsächliche Arbeitslosenzahl weit höher als die offiziell ausgewiesene. So lag die wahre Arbeitslosigkeit schon vor einem halben Jahr nach Berechnungen der WirtschaftsWoche bei 8,6 Millionen – und damit mehr als doppelt so hoch wie die damalige offizielle Zahl von 4,2 Millionen (WirtschaftsWoche 29/2004).
Nicht berücksichtigt werden in der offiziellen Statistik: Arbeitslose in „Maßnahmen“ der BA und der Kommunen, ältere Arbeitslose unter 65 Jahren im Vorruhestand und Kurzarbeiter. Um das gesamte Ausmaß der Unterbeschäftigung in Deutschland zu ermessen, muss außerdem noch die so genannte stille Reserve dazugerechnet werden. Das sind all jene, die gerne arbeiten würden, aber angesichts der Arbeitsmarktlage die Hoffnung aufgegeben haben, keinen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben und deshalb nicht bei der BA gemeldet sind. Nach den neuesten verfügbaren Zahlen hat sich die so errechnete „wahre“ Arbeitslosigkeit noch einmal deutlich erhöht und liegt mittlerweile bei rund 9,1 Millionen.
Zwar ist diese Rechnung mit Unsicherheit behaftet. So können manche Größen nur geschätzt werden – das gilt natürlich für die stille Reserve, aber auch für die Arbeitslosen in Maßnahmen der Kommunen und für die Vorruheständler liegen keine genauen Zahlen vor. Experten wie der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Klaus Zimmermann, bestätigen aber, dass die Rechnung der WirtschaftsWoche das wahre Ausmaß der Jobmisere besser wiedergibt als die offizielle Statistik.
Doch selbst die Zahlen aus Nürnberg offenbaren die gewaltige Kluft zwischen den großmundigen Versprechungen der Bundesregierung und der tristen Wirklichkeit. 1998 ging Schröder mit dem Versprechen in den Wahlkampf, die Arbeitslosigkeit auf 3,5 Millionen zu drücken. „Wir wollen uns jederzeit daran messen lassen“, sagte Schröder im November 1998 bei seiner Regierungserklärung im Bundestag, „in welchem Maße wir zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit beitragen.“ Noch weiter lehnte sich Wolfgang Clement, damals noch Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen, aus dem Fenster: Er halte es für möglich, die Arbeitslosigkeit innerhalb von vier Jahren um ein Viertel zu senken, verkündete er Ende 1998 – also von damals rund vier Millionen auf drei Millionen.
Reformmüdigkeit
Als daraus nichts wurde, legte VW-Personalvorstand Peter Hartz vor der Bundestagswahl 2002 ein Konzept vor, das die Arbeitslosigkeit sogar auf zwei Millionen zu halbieren versprach und das sich Gerhard Schröder zu Eigen machte. Zweieinhalb Jahre später ist klar: Auch Hartz ist vor allem viel heiße Luft. Trotz Kapital für Arbeit, Personal-Service-Agenturen und Ich-AGs ist im vergangenen Jahr das stärkste Wachstum der Weltwirtschaft seit 30 Jahren spurlos am deutschen Arbeitsmarkt vorbeigegangen.
Wirtschaftsminister Clement behält jedoch unbeirrt seine rosa Brille auf. In der zweiten Jahreshälfte werde sich die Zahl der Arbeitslosen schon mal um 200.000 verringern, prognostiziert er – und verspricht sogar, dass dieser Prozess sich „in den nächsten Jahren fortsetzen und beschleunigen“ werde.
Eine schöne Hoffnung. Auch Hartz IV allein wird es nicht bringen – die Maßnahmen konzentrieren sich nur auf die Arbeitsvermittlung und die Erhöhung der Anreize, Arbeit zu suchen. Die Bedingungen für Unternehmen, mehr Stellen zu schaffen, werden von der rot-grünen Bundesregierung dagegen völlig ausgeklammert. „Seit Monaten zeichnet sich wieder Reformmüdigkeit, ja Reformverweigerung bis zur Bundestagswahl 2006 ab“, klagt Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt. „Ein Reformstillstand wäre aber ein verheerendes Signal für unseren immer noch angeschlagenen Standort.“
ROLF ACKERMANN
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