Bonn. Die öffentlich-rechtlichen deutschen TV-Nachrichten verbreiten mit ihrer Nachrichtenauswahl ein Klima, als könnten die Parlamentswahlen im Irak ihre Funktion nicht erfüllen. Sie stehen damit im Widerspruch zur Position der UN, die Kofi Annan auf Basis der UN-Wahlbeobachter vorgestellt hat, sowie im Widerspruch zu ihren Kollegen der arabischen TV-Sender von Al Jazeera bis Al Arabia. Das zeigt die aktuelle Untersuchung des Medienforschungsinstituts Medien Tenor. Die Bonner Wissenschaftler fanden heraus, daß „heute journal“ und Tagesthemen im Untersuchungszeitraum (17.-26. Januar 2005) in nahezu 80 Prozent der Fälle negativ wertete, wenn die Gültigkeit der Wahl im Irak angesprochen wurde. Marietta Slomka (heute journal, 19.01.): „Wie sollen unter diesen Umständen freie, gleiche und allgemeine Wahlen abgehalten werden?“ ZDF-Korrespondent Luc Walpot bezweifelte gar, daß die Wahl eine Entscheidung über politische Ziele sei: „Angesichts der täglichen Drohungen, Entführungen, Bomben und Morde ist das Interesse an Wahlprogrammen gering. (…) Die Plakate werden wohl nicht den Ausschlag geben, entscheidend wird die Angst sein.“ Die Tagesthemen äußerten sich ebenfalls sehr skeptisch: Der Bombenterror bedrohe die Ausführung der Wahlen, berichtete Jörg Armbruster.
Ein vollkommen anderes Bild erhalten die Zuschauer der führenden arabischen TV-Sender Al Jazeera, Al Manar, Al Arabia etc. zur Lage im Irak. Sie wählen andere Nachrichten aus dem Irak und verbreiteten damit am selben Tag (19. Januar) ihrem Publikum in 100% der Fälle eine positive Einschätzung zur Legitimität der Wahl. „Der Trend der Berichte von ARD und ZDF entspricht dem extrem einseitigen Berichterstattungsmuster, das wir seit Schröders Wechsel in der US-Politik in der Schlußphase der Bundestagswahl 2002 bei den öffentlich-rechtlichen Sendern beobachten“, so Roland Schatz, Chefredakteur Media Tenor International. „Dem deutschen Publikum wird die Lage im Irak doppelt so negativ dargestellt wie unter dem Diktator Saddam Hussein. Zählen tote Iraker bei Tagesthemen und heute journal erst, seit Hussein sie nicht mehr zu verantworten hat?“ Die Langzeitanalyse der Bonner Medienforscher zeigt seit 1994, daß sich die Verantwortlichen für die Hauptnachrichten bei ARD und ZDF in der Darstellung der Wahlen z.B. in Rußland oder China weniger intensiv mit der Gewährleistung von demokratischen Standards beschäftigen. „Solange jeden Tag immer das gleiche Thema aus Bagdad angeboten wird, können die Zuschauer in der ersten Reihe sich kein eigenständiges Urteil über das im Irak Erreichte bilden,“ so Schatz. Dies wäre eher der Fall, wenn nicht nur vielfältigere Informationen recherchiert würden, sondern auch den unterschiedlichen Regionen mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden würde.
Darüber hinaus hat Medien Tenor aktuell die Berichterstattung zur Irak-Wahl in deutschen, britischen, französischen, spanischen und italienischen Meinungsführermedien mit der Darstellung in den arabischen Leitmedien verglichen. Die Analyse zeigt auch dort ähnliche Unterschiede in der Bewertung der Legitimität. Während die arabischen Medien das bereits geschilderte Bild liefern, stellen auch die westeuropäischen Medien die Rechtmäßigkeit der Wahlen wesentlich stärker in Frage.
Beim Medien Tenor in Bonn untersuchen über 140 Analysten Tag für Tag arabische, deutsche, englische, französische und italienische Nachrichtensendungen Beitrag für Beitrag, welche Themen, Personen, Institutionen, Länder dargestellt werden.